Vor dem Hintergrund massiver gesellschaftlicher Umbrüche, mitten in der Krise 1923, wurde die erste Sozialbank in Deutschland gegründet. Ziel der „Hilfskasse gemeinnütziger Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands“ war die Lösung einer gesellschaftlichen Fragestellung: Wie finanzieren wir soziale Arbeit? Heute, 100 Jahre später, erleben wir vor dem Hintergrund der digitalen Transformation, der globalen Krisen und des Klimawandels ähnlich tiefgreifende Umbrüche. Heute stellt sich die Frage: Wie ermöglichen wir nachhaltiges und gerechteres Wachstum und mehren das Gemeinwohl in unserer Gesellschaft?
Über diese Frage sprach die Sozialus-Redaktion mit Prof. Dr. Gesche Joost, Professorin an der Universität der Künste (UdK) in Berlin und seit Juni 2023 Mitglied des Aufsichtsrats der Bank für Sozialwirtschaft.
»Frau Prof. Joost, was verstehen Sie unter Gemeinwohl?«
Ohne das Gemeinwohl können wir gar nicht zusammenleben. Es umfasst alles, was wir brauchen, was über die einzelnen Interessen hinausgeht, was allen zugutekommt. Das kann ganz praktisch sein: Die Schule zum Beispiel oder die Feuerwehr gehören zum Gemeinwohl. Aber es sind auch bestimmte Werte, die uns umgeben und die wir immer wieder miteinander aushandeln müssen. Daher ist das Gemeinwohl auch ständig im Wandel begriffen, es wird immer wieder gegenseitig ausgehandelt und zusammen hergestellt. Das ist so interessant, weil es eine interaktive Komponente hat. Für mich war es spannend, weil der Begriff „Gemeinwohl“ – es ist ja ein alter deutscher Begriff – durch meine Studierenden in Berlin in anderer Gestalt wieder auf mich zugekommen ist, und zwar als „Commons“ oder „New Commons“ im Englischen. Interessanterweise kam das aus dem Digitalen, aus der Frage heraus, wie das Internet ein Ort des Gemeinwohls sein kann, weil viele Ressourcen kostenlos zur Verfügung stehen, weil alle Zugriff auf Wissen haben, weil vieles Open Source ist oder Open Access. Darüber kam eine neue Dynamik in die Gemeinwohl-Debatte. Wenn sich so viel im digitalen Gemeinwohl ändert, was passiert dann im physischen und was verstehen wir nach dieser Erweiterung unter dem neuen Gemeinwohl?
»Hier wird landläufig oft Gemeinwohl und Gemeinnützigkeit in einen Topf geworfen. Wo sehen Sie den Unterschied zwischen Gemeinwohl und Gemeinnützigkeit?«
Gemeinnützigkeit ist sehr viel enger definiert und ein juristischer Begriff. Da geht es darum, wie man gemeinwohlorientierte Unternehmen durch das Siegel der Gemeinnützigkeit juristisch und auch steuerlich einordnen kann. Was da gerade interessanterweise passiert, ist, dass sich die Szenen verschieben und viele Unternehmungen, die früher gemeinnützig, also non-profit waren, heute infrage stellen, ob das noch das richtige Modell für sie ist. Ein Beispiel: Couchsurfing hat im gemeinwohlorientierten Bereich angefangen und plötzlich ist aus der Idee AirBnB geworden, also ein absolut profitorientiertes Unternehmen, was die Idee des Teilens und des Gemeinwohls korrumpiert.
Viele Unternehmen merken, dass die enge Fassung der Gemeinnützigkeit ein limitierender Faktor ist. Es gibt daher gerade eine Bewegung, die die Frage stellt, ob das Label „gemeinnützig“ nicht ein bisschen flexibler gestaltet werden müsste, weil es auch tolle Unternehmen gibt, die teilweise in den Profit-Bereich oder in eine Mischform gehen. Und das ist durchaus gewollt, weil das ein positiver Faktor sein kann
»Sie haben schon angedeutet, da ist viel in Bewegung. Was sind die Hauptveränderungen in den letzten Jahren im Bereich des Gemeinwohls?«
Ich glaube, durch die vielen Debatten um Social Entrepreneurship und Impact und durch die Kritik an den globalen, kapitalistischen Plattformen ist neue Bewegung in den Gemeinwohl-Begriff gekommen, was sehr positiv ist. Da ist eine Bottom-up-Initiative aus der jungen, international vernetzten Szene, die sagt, wir brauchen mehr Unternehmungen, die das Gemeinwohl stärken, um die Polarisierung und Ungleichheiten der Gesellschaft auszugleichen. Die sagt, es geht nicht um Profitmaximierung, sondern darum, wie wir gut zusammenleben wollen. Viele junge Menschen wollen mit ihren Unternehmungen etwas Gutes zur Gesellschaft beitragen, und das finde ich sehr positiv. Das ist eine politisch aktivierte Generation, die Lust hat, unsere Umwelt, die Nachhaltigkeit und das Gemeinwohl in den Blick zu nehmen.
»Was braucht es, damit sich dieses gemeinwohlorientierte Wirtschaften von solchen jungen Unternehmen und sozialen Unternehmen am besten entfalten kann?«
Es braucht auf jeden Fall Funding. Also Fonds, die genau solche Unternehmungen unterstützen und groß werden lassen. Dann braucht es Raum in dem etwas engen Korsett der juristischen Definition von Gemeinnützigkeit. Und es braucht Unterstützung für diese Art von Unternehmertum aus der Gesellschaft heraus. Bisher sind die Wachstumsaussichten von jungen Unternehmen für die Finanzierung entscheidend. Aber gibt es nicht auch andere, gemeinwohlorientierte Indikatoren, die genauso zählen sollten, wenn es darum geht, den Erfolg eines Unternehmens zu messen? Deswegen ist eine KPI-Diskussion so wichtig [KPI = Key Performance Indicators, dt. Schlüsselkennzahlen]. Also was sind eigentlich die Hauptfaktoren, die den Erfolg eines Unternehmens messen, neben finanziellem Wachstum? So etwas wie: Was zahlt man eigentlich auf das Gemeinwohl ein? Kann man zum Beispiel belegen, wie man die Sustainable Development Goals (SDG), die UN-Nachhaltigkeitsziele, erfüllt?
»Sie sprechen das Thema Wirkungsmessung an. Könnten Sie das bitte noch etwas konkreter beschreiben?«
Die Wirkung wird in der Start-up-Szene immer über den Unternehmenswert gemessen, also über finanzielle Kennzahlen. Aus dem Social Entrepreneurship gibt es andere Methoden, um zu messen, was der soziale Fußabdruck eines Unternehmens ist, wie etwa die Gemeinwohl-Bilanz. Das wird jetzt verstärkt durch die Nachhaltigkeitskriterien „ESG“ [Environment, Social, Governance], die so viel stärker deutlich machen, dass man auch den ökologischen Fußabdruck darstellen muss, dass man eine gute Unternehmensführung hat und soziale Faktoren mit einbezieht. Diese Kriterien werden jetzt schon stärker mit in die Unternehmensbewertung reingenommen. Ein weiterer Schritt wäre ein „Impact Measurement“ [Wirkungsmessung]: Kann ich mit meiner Unternehmung spezifische gesellschaftliche Herausforderungen adressieren, die sich aus den SGD ableiten? So etwas wie „Bildung für alle“ oder „Gendergerechtigkeit“. Dass man dies stärker in die Unternehmensbewertung einpreist, ist eine wichtige Entwicklung, um nachhaltigere Unternehmen zu unterstützen.
»Ergibt sich daraus auch, dass wir einen neuen Gemeinwohlbegriff brauchen, wenn diese Dinge im Moment so stark in Bewegung sind?«
Ich glaube, dass der Gemeinwohlbegriff immer wieder neu definiert und diskutiert werden muss. Das Gespräch aufzunehmen, das ist das Wichtige. Und dabei auch zu vermitteln zwischen Jung und Alt, zwischen internationalen Diskursen und dem, was hierzulande passiert, und zwischen der Sozialwirtschaft, die mit diesem Begriff sozusagen groß geworden ist, und Menschen, die aus Start-ups oder aus anderen Bereichen kommen. Wir sollten die Chance nutzen, immer wieder neu auszuhandeln, was Zielsetzung in gemeinwohlorientierten Unternehmungen ist, voneinander lernen und die Erfahrungen der etablierten Akteure in die junge Generation übertragen, und vice versa.
»Wofür möchten Sie sich einsetzen, wenn Sie Mitglied des Aufsichtsrats bei der Bank für Sozialwirtschaft sind?«
Ich freue mich sehr, die Bank für Sozialwirtschaft in dieser Rolle begleiten zu können. Denn: Die Sozialbank ist wichtiger denn je. Gerade in diesen herausfordernden Zeiten ist die Sozialbank als starker Partner für die gemeinwohlorientierte Sozialwirtschaft zentral, das zeigt die hundertjährige Geschichte der Bank.
Thematisch möchte ich gerne die Erneuerung und Weiterentwicklung des Gemeinwohlbegriffs begleiten und die Digitalisierung voranbringen. Das Gemeinwohl wird heute auch digital hergestellt und die internen Bankprozesse digitalisieren sich ebenfalls sehr stark. Wenn wir diesen Transformationsprozess gut begleiten und als positive Entwicklung des Unternehmens sehen, erschließen sich neue Geschäftsfelder und Möglichkeiten der Skalierung. Ich sehe ein sehr großes Potenzial für die Digitalisierung. Darüber hinaus ist Nachhaltigkeit ein riesiges Thema. Im Zuge des Green Deals der EU kommt regulatorisch sehr viel auf die Banken zu. Gleichzeitig haben sie mit der Finanzierung eine enorme Hebelwirkung, was sie im Sinne der Nachhaltigkeit möglich machen können. Für die Bank ist es wichtig, Teil der digitalen und der Nachhaltigkeitstransformation zu sein. Diesen Prozess für die Sozialbank zu begleiten, ist mein Ziel.
»Warum braucht es 100 Jahre nach der Gründung der Bank für Sozialwirtschaft auch heute noch eine solche Bank?«
Vor 100 Jahren standen wir auch vor sozialen Herausforderungen. Es gab eine gespaltene Gesellschaft mit der Herausforderung, den Sozialstaat wieder aufzubauen, Gemeinwohl zu schaffen und zu finanzieren. Ein Stück weit sind wir jetzt in der gleichen Situation. Große gesellschaftliche Herausforderungen bestehen im Klimawandel, bei der Energietransformation und der gesellschaftlichen Ungleichheit. Jetzt ist es wichtig, die Akteure der Sozialwirtschaft zu unterstützen, neue Wege zu entwickeln und das Gemeinwohl zu fördern. Die Sozialbank mit ihrer hundertjährigen Expertise, dem Vertrauen, das sie aufgebaut hat, und ihrem großen Netzwerk ist gefragter denn je.
»Wie sieht für Sie eine wünschenswerte Zukunft für unsere Gesellschaft aus?«
Wir haben in Europa die große Chance, Wirtschaftlichkeit mit Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeitsaspekten zusammenzudenken. Das ist ein Zukunftsmodell, was trägt. In den letzten Jahren haben wir gesehen, wie große Unternehmen im digitalen Bereich rein anhand von Profitorientierung gemessen wurden. Jetzt besteht die Chance, sowohl für Deutschland als auch für Europa, eine sozial nachhaltige Wirtschaft zu unterstützen, in Netzwerken zu denken und die junge Generation mitzunehmen. Diese europäische Sichtweise finde ich sehr positiv. Um diese Werteorientierung und das Bekenntnis zur sozialen Nachhaltigkeit zu erreichen und als europäisches Projekt nach vorne zu bringen, müssen alle zusammenhalten.
»Frau Prof. Joost, vielen Dank für das Gespräch!«
Das Interview führte Susanne Bauer.