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Pflegebedürftige Menschen entscheiden sich immer häufiger für Betreutes Wohnen und Pflege-Wohngemeinschaften als ambulante Alternative zum Pflegeheim. Bundesweit leben etwa 150.000 Pflegebedürftige im betreuten Wohnen und rund 31.000 Pflegebedürftigen in Pflege-WGs. Die Gründe liegen auf der Hand: Mehr Selbstbestimmtheit, mehr soziales Miteinander, mehr Lebensqualität – und gleichzeitig weniger Kosten, da der Eigenanteil für die Bewohner geringer ist als im Pflegeheim. Auch die Betreiber solcher Einrichtungen profitieren. Ihre Einnahmen sind im Vergleich zu einer Unterbringung und Betreuung in einer stationären Pflegeeinrichtung fast doppelt so hoch. Den Schwarzen Peter haben die Pflegekassen: Die Mehrausgaben für alternative Wohnformen beliefen sich im vergangenen Jahr auf fast 400 Millionen Euro gegenüber einer vollstationären Pflege im Heim, konstatiert der Pflegereport 2019 der Barmer – und warnt vor weiteren Kostensteigerungen für die Kassen. Autoren des Reports sind Heinz Rothgang und Rolf Müller von der Universität Bremen.
Seit einigen Jahren sprechen Experten von einer Ambulantisierung der Pflege: Lagen die Leistungsausgaben der Pflegeversicherung zwischen 2000 und 2012 für den ambulanten und den stationären Bereich jedes Jahr noch fast gleichauf, sind sie seitdem in der ambulanten Versorgung deutlich angestiegen: 2018 lagen die Ausgaben hier bei 22,6 Milliarden Euro (2000: 8 Mrd. Euro). Zum Vergleich: Im stationären Bereich stiegen die Kosten auf 14,3 Mrd. Euro in 2018 (2000: 7,4 Mrd. Euro).
Aktuell existieren schätzungsweise bis zu 8.000 betreute Wohnanlagen und 4.000 Pflege-Wohngemeinschaften in Deutschland – von denen rund ein Drittel erst in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Zugleich ist der Anteil der Menschen, die im Pflegeheim leben, zurückgegangen: von rund 30 Prozent (2005) auf 23 Prozent im Jahr 2017. Das spiegelt sich auch in den aktuellen Entwicklungen. So waren im vergangenen Jahr rund 340 Einrichtungen des betreuten Wohnens (mit 10.000 Pflegeplätzen) in der Planung oder bereits im Bau. Im Heim-Bereich waren es mit 270 Bauprojekten deutlich weniger.
Dabei wird betreutes Wohnen immer häufiger von Pflegeeinrichtungen angeboten: mittlerweile rund drei Viertel der betreuten Wohnanlagen. Für Anbieter lohnt es sich offensichtlich, vollstationäre Angebote durch Pflege-WGs oder betreutes Wohnen zu ersetzen, zumal es dort weniger ordnungsrechtliche Auflagen wie Kontrollen, Baubestimmungen, Personalanforderungen und Fachkraftquote gibt. In alternativen Wohnformen können nicht nur mehrere Leistungsarten des SGB XI miteinander kombiniert, sondern auch Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V abgerechnet werden, was im Pflegeheim nur sehr eingeschränkt möglich ist.
Folge: „Die gleichzeitige Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen, Tagespflege und häuslicher Krankenpflege führt dabei zu Leistungsansprüchen gegen die Kranken- und Pflegeversicherung, die rund doppelt so hoch sind wie die bei vollstationärer Versorgung. Werden zusätzlich noch der Entlastungsbetrag und ein Wohngruppenzuschlag gewährt, übersteigen die kumulierten Leistungen den Betrag für vollstationäre Pflege um 150 Prozent“, beschreibt der Report.
Aus Sicht der Kranken- und Pflegekassen ist diese Kostensteigerung keine positive Entwicklung – und auch nicht nachvollziehbar, da die Pflegequalität im betreuten Wohnen und in WGs nicht besser sei als im Pflegeheim. So sähen rund 80 Prozent der Bewohner alternativer Wohnformen einmal im Monat ihren Hausarzt, bei Pflegeheimbewohnern seien es 87 Prozent. 3,6 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner betreuten Wohnens kämen wegen Erkrankungen ins Krankenhaus, die sich ambulant sehr gut behandeln ließen, in Pflegeheimen träten nur 2,4 Prozent solcher Fälle je Monat auf. Und ein Dekubitus sei im betreuten Wohnen zu 66 Prozent wahrscheinlicher als im Pflegeheim.
Das Problem: Alternative Wohnformen unterliegen keinem Qualitätssicherungsverfahren wie die Heime. „Daher müssen zeitnah Qualitätsmaßstäbe für neue Wohn- und Pflegeformen entwickelt werden“, fordert Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer. Außerdem sollten die Bundesländer generell die Pflegeaufsicht übernehmen und für mehr Transparenz auf dem Markt sorgen. Dazu benötigten die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen mehr Transparenz bei den Angeboten, der Qualität und den jeweiligen Anbietern. Straubs Fazit: „Vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots der Pflegeversicherung sind solche beachtlichen Mehrkosten nur gerechtfertigt, wenn die Lebensqualität der Pflegebedürftigen auch deutlich gesteigert wird. Gibt es diese positiven Effekte nicht, sollte ein Ausbau dieser Versorgungsmodelle gebremst werden.“
Pflegereport 2019, Ambulantisierung der Pflege, Heinz Rothgang, Rolf Müller
Hrsg.: Barmer, Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 20, 210 Seiten, Download
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