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Gesundheit und Krankheit sind hierzulande bekanntlich auch eine Frage des Wohnorts. Schon seit Jahren weisen Untersuchungen auf große regionale Unterschiede etwa bei der Behandlung von Rückenschmerzen, der Entfernung des Blinddarms oder beim Einsetzen eines Defibrillators hin.* Fachleute erklären solche medizinisch nicht zu rechtfertigenden Abweichungen mit Unter- und Überversorgung, mit Qualitäts- und Effizienzproblemen – also mit Faktoren, die Patienten nicht beeinflussen können. Der Blick auf die innerdeutsche Landkarte zeigt ebenfalls erhebliche regionale Unterschiede beim Besuch von Arztpraxen. Allerdings kommt eine aktuelle Studie hier zu einer anderen Erklärung.
Der Untersuchung des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung und der Universität Tilburg liegen Daten von 6,3 Millionen Versicherten der Betriebskrankenkassen zugrunde. Daraus wurden die ambulanten Leistungspunkte von Patienten ab 18 Jahren für den Zeitraum von 2006 bis 2012 ausgewertet. Besonderes Augenmerk galt den rund 203.000 Personen, die von einer Region in eine andere umgezogen waren. Wichtige Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Die Nutzung ambulanter Leistungen weicht zwischen den einzelnen deutschen Bundesländern erheblich voneinander ab. Generell zeigt sich: Der Westen nimmt deutlich mehr Leistungen in Anspruch als der Osten. Hamburg, Berlin und das Saarland liegen an der Spitze, während Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt am sparsamsten sind. „Zwischen der Region mit der höchsten (Hamburg) und der niedrigsten Nutzung (Brandenburg) liegen 30 Prozent“, rechnet die Studie vor. Unter den westdeutschen Bundesländern hat Schleswig-Holstein die geringste Nachfrage an ambulanter Versorgung.
Als Hauptgrund für diese regionalen Abweichungen macht die RWI-Studie das Nachfrageverhalten der Patienten aus: In mehr als 90 Prozent der ausgewerteten Versichertendaten entschieden sie nach persönlicher Präferenz und eigenem Gesundheitszustand über den Arztbesuch. Die Patienten nahmen an ihrem neuen Wohnort fast ebenso viele ärztliche Leistungen in Anspruch wie an ihrem vorigen Wohnort, auch wenn das ambulante Versorgungsniveau abwich. Anzahl und Ausstattung der Arztpraxen in der neuen Umgebung spielte für sie nur eine geringe Rolle (10 %) – sie blieben ihren Gewohnheiten treu.
Die hohe patientengenerierte Inanspruchnahme von Leistungen spiegelt regulatorische Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems wider, argumentieren die Autoren. „Die ambulante Versorgung in Deutschland ist ein interessantes Beispiel für Rahmenbedingungen, die eine strenge Angebotsbeschränkung mit geringen Nachfragelimits kombiniert“, stellt die Studie fest: Demnach stehen der Niederlassungssperre für Ärzte und der Budgetdeckelung die freie Arztwahl für Patienten, geringe Zuzahlungen und ein Sicherstellungsauftrag für unterversorgte Regionen gegenüber. In den USA und den Niederlanden hingegen wird der Studie zufolge die Patientennachfrage nach Gesundheitsleistungen deutlich stärker eingeschränkt und gesteuert.
„Bei Fachärzten spielt die Versorgungssituation eine größere Rolle als bei Allgemeinmedizinern“, hebt die Studie hervor. Das sei vor allem dem Mangel an Koordination in der fachärztlichen Behandlung von Patienten mit komplexer Krankengeschichte zuzuschreiben. Die regionalen Unterschiede bei ambulanten Behandlungen sind bei Fachärzten zu rund 32 Prozent auf die Versorgungslage zurückzuführen, bei Allgemeinmedizinern nur zu sieben Prozent.
„Unsere Studie macht deutlich, dass ein höheres Angebot an Ärzten nicht automatisch dazu führt, dass Patienten öfter zum Arzt gehen“, zitiert eine Pressemeldung den Mitautor und RWI-Gesundheitsökonom Ansgar Wübker. „Stattdessen scheinen kulturelle Unterschiede und Einstellungen eine große Rolle zu spielen.“ Das zeige sich daran, dass Menschen in Ostdeutschland deutlich weniger behandelt werden als im Westen. Möglicherweise spielten in das unterschiedliche Nutzungsverhalten immer noch wirkmächtige regionale Mentalitäten hinein. Allerdings dürfte die Angebotsstruktur vor Ort künftig deutlichere Folgen für die Patienten haben als heute, konstatiert die Studie. Nämlich dann, wenn die ambulante Versorgung in ländlichen Regionen hinter den Bedürfnissen einer alternden Bevölkerung zurückbleibe.
Martin Salm / Ansgar Wübker, Sources of regional variation in healthcare utilization in Germany, Journal of health Economics, Januar 2020, 15 Seiten, Download
*Bertelsmann Stiftung, Projekt Faktencheck, Medizinische Versorgung auf dem Prüfstand
(abgerufen: 13.03.2020)
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