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Die Liebe der Deutschen zu Münzen und Scheinen ist sprichwörtlich, ihr Rezept gegen trübe Gedanken heißt „Bargeld lacht“. Zugleich freunden sie sich zunehmend mit anderen Zahlungsmitteln an. Mit 50,5 Prozent wurde 2019 erstmals mehr als die Hälfte des gesamten Umsatzes per Karte bezahlt, ermittelte das Kölner EHI Retail Institute in seiner aktuellen Erhebung „Zahlungssysteme im Einzelhandel 2020“. Der Infektionsschutz im Gefolge der Corona-Pandemie dürfte dem bargeldlosen Bezahlen einen nachhaltigen Schub verleihen.
Die EHI-Studie stützt sich auf Daten von 403 Unternehmen mit 85.000 Betrieben aus 35 Branchen. Von 445 Mrd. Euro Jahresumsatz im Jahr 2019 entfielen demnach 224,6 Mrd. Euro auf Kartenzahlung, 15,5 Mrd. Euro mehr als im Vorjahr. Wachstumsverstärker ist das Girocard-System des Bankenverbands „Deutsche Kreditwirtschaft“, Nachfolger der guten alten EC-Karte. Es legte um 3,5 Prozentpunkte (19,9 Mrd. Euro) auf 149,5 Mrd. Euro zu. Auch die Kreditkarte machte Boden gut – um 0,7 Prozent auf 7,6 Prozent des Handelsumsatzes. Das unterschriftbasierte SEPA-Lastschriftverfahren dagegen verliert weiter Anteile.
Treiber im Verdrängungswettbewerb ist das kontaktlose Bezahlen und seine „sehr hohe Akzeptanz bei Händlern und Verbrauchern“, besagt die EHI-Studie. Für einen Schoko-Riegel oder eine Tasse Kaffee mal eben Smartphone, Girocard oder neuerdings die Fitness-Uhr ans Terminal des Händlers halten – das zieht auch hierzulande in den Alltag ein. Das Coronavirus wirkt als Katalysator, heißt es doch in vielen Läden: „Abstand halten – kontaktlos bezahlen“. Prompt vereinfachten viele Anbieter das Verfahren und verdoppelten das Limit für die lästige PIN-Eingabe von 25 auf 50 Euro.
Die Rechnung geht auf: 2019 waren 26,5 Prozent der Girocard-Transaktionen kontaktlos, während der Corona-Krise sind bereits mehr als 45 Prozent. Der Siegeslauf des bargeldlosen Bezahlens geht laut EHI-Studie weiter: „Insgesamt ist damit zu rechnen, dass der Kartenanteil am Umsatz schneller ansteigt als zuvor abzusehen war – durch die Corona-bedingte Veränderung des Verbraucherverhaltens bis zum Jahr 2022 auf 58,1 Prozent.“
Für den Vormarsch des bargeldlosen Einkaufs sprechen auch die rückläufigen Rechnungsbeträge. Diese sind in den vergangenen zwei Jahren bei Girocard von 43,76 Euro auf 40,85 Euro gesunken, bei Kreditkarten von 54,91 Euro auf 41,72 Euro. Von knapp 20 Milliarden Einkäufen (2019) werden zwar immer noch fast drei Viertel mit Münzen und Scheinen bezahlt (14,58 Mrd. bzw. 72,9 %) – nach einem Rückgang von 3,2 Prozentpunkten gegenüber 2018.
Wohl kein Zufall, dass in diesen Zeiten beschleunigten Wandels der Bezahlkultur gleich mehrere Erhebungen den Deutschen ins Portemonnaie blicken. Zwei aktuelle Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Yougov fügen interessante Aspekte hinzu.
So ergibt eine Umfrage Mitte Mai für den Zahlungsdienstleister Klarna, dass die Wertschätzung des Bargelds eine Frage des Geschlechts, der Generation und der Region ist. Danach hat jeder Deutsche im Durchschnitt 89,22 Euro Bargeld dabei: Männer 104 Euro, Frauen 75 Euro. Je älter die Befragten, desto mehr Bargeld – bei Menschen über 55 Jahren durchschnittlich 98 Euro. Auch zwischen den Bundesländern tun sich Unterschiede auf. Die Niedersachsen (124 Euro) und Saarländer (121 Euro) nehmen das meiste Bargeld mit, Thüringer (56 Euro) und Schleswig-Holsteiner (53 Euro) kommen mit deutlich weniger aus.
Bargeld, Karte, mobiles Bezahlen – dahinter steckt mehr als nüchterne Routine an der Ladenkasse. Dass es immer auch um die tiefsitzende Bezahlkultur von Menschen und Völkern geht, zeigt die Yougov-Umfrage „Bargeldlose Zukunft in Europa?“ (Juli 2020). Daraus wird die Liebe der Deutschen zum Bargeld im Europa-Vergleich deutlich. 66 Prozent der Befragten möchten am liebsten in allen Geschäften bar bezahlen, während Dänen und Schweden sich am ehesten ein bargeldloses Land vorstellen können.
In der aktuellen Pandemie erhält die Frage, ob das Ende des Bargelds näher rückt, neuen Auftrieb. Dazu gab NRW-Bankenpräsident Andre Carls kürzlich im Kölner Stadtanzeiger ein klares Statement ab: „Das Bargeld bleibt auf jeden Fall, da bin ich mir sicher. Das zeigen auch Länder, die radikaler das Bargeld zurückgedrängt haben wie im Baltikum oder in Schweden. Aber die Nutzung wird auf ein Minimum beschränkt werden.“
Kleine Beträge wie Trinkgelder würden noch eine Weile bar gezahlt werden, ist sich Carls sicher. Doch selbst das gehe auch anders, wie das Beispiel Schweden zeige. Dort verfügten selbst Obdachlose über mobile Kartenlesegeräte zur Spendenabrechnung.
Was die Zunahme des bargeldlosen Bezahlens antreibt, zeigen Dienste wie Apple-Pay oder Google-Pay: nutzerfreundliche Dienstleistungen über die reine Finanztransaktion hinaus, zum Beispiel als Bonuskarte, ÖPNV-Ticket oder mobile Kontoverwaltung. Damit wird das Smartphone endgültig zur digitalen Brieftasche – und die Euro-Münze zu einem Relikt im Einkaufswagen.
Kontaktlos und Corona pushen Kartenzahlung. EHI-Studie „Zahlungssysteme im Einzelhandel 2020“, Juni 2020, Download
Yougov (Hg.), Bargeldlose Zukunft in Europa? Wie sich der Umgang mit Bargeld in fünf europäischen Ländern seit Beginn der Corona-Krise verändert hat, 6. Juli 2020, Download
NRW-Bankenpräsident über Folgen der Krise: „Bargeld wird auf ein Minimum beschränkt“, Kölner Stadtanzeiger, 03.07.2020 (abgerufen am 17.07.2020)
Bargeld in der Corona-Krise „Die Tresore sind voll“, Interview mit Bundesbankvorstand Burkhard Balz, Süddeutsche Zeitung, 13.04.2020 (abgerufen am 17. 7. 2020)
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