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Sie können nicht mit teuren Markenklamotten trumpfen, laden keine Mitschüler nach Hause ein, werden nicht im dicken Auto zur Schule kutschiert: Normalität im Alltag armer Kinder, der von ihnen selbst als schambesetzt wahrgenommen wird. Wie wirkt sich das Aufwachsen in Armut aus und welche Zukunftschancen haben die Kinder? Das untersucht eine Langzeitstudie der Arbeiterwohlfahrt (AWO) – mit bemerkenswerten Ergebnissen: Jedes dritte Kind hierzulande, das in einer einkommensarmen Familie aufwächst, lebt auch 20 Jahre später in materieller Armut. Doch die Annahme „einmal arm, immer arm“ sei falsch.
Mit der Untersuchung liegt ein in Forschungszeitraum und sachlicher Tiefe einmaliger sozialwissenschaftlicher Fundus vor. Die AWO führt sie seit 1997 zusammen mit dem Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) durch. Darin wurden die Lebenslagen von anfangs knapp 900 armen und nicht armen Kindern in AWO-Kindergärten im Alter von sechs Jahren erfasst. Seither folgten weitere Erhebungen – die Kinder von damals sind heute junge Erwachsene von rund 25 Jahren. Der Abschlussbericht der Langzeitstudie unter dem Titel „Wenn Kinderarmut erwachsen wird" soll Politik und sozialen Organisationen eine fundierte Grundlage zur Bekämpfung von Kinderarmut geben.
Arme Haushalte beziehen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung oder erhalten staatliche Unterstützung wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Kinderzuschlag oder Wohngeld. Die Studie berücksichtigt aber nicht nur die finanzielle Seite der Kinderarmut, sondern auch die materielle, soziale, kulturelle und gesundheitliche Gesamtlage der Betroffenen. In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt ungefähr 13 Millionen Kinder und Jugendliche (2018). Rund 15 Prozent – also zwei Millionen – sind von Armut bedroht. Sozialverbände sprechen von bis zu drei Millionen.
„Jedes dritte Kind aus armen Familien wächst in multipler Deprivation auf, d. h. diese Kinder sind mehrfachen gravierenden Einschränkungen und Benachteiligungen in (fast) allen Lebensbereichen ausgesetzt“, förderte die Studie zutage. Das betrifft den häufig unsicheren Erwerbsstatus, mangelnde finanzielle Rücklagen, Verschuldung und Einschränkungen in der Mobilität. Hinsichtlich der kulturellen Lage fällt auf, dass sich arme von nicht armen jungen Erwachsenen bei Bildungsabschlüssen und der Berufsqualifizierung unterscheiden, was wiederum mit schlechteren Verdienstchancen korrespondiert. Bei der sozialen Lage zeigt sich eine geringere Qualität sozialer Netzwerke, des Weiteren fallen armutsspezifische Unterschiede vor allem bei der psychischen Gesundheit auf.
Ausbildung, Partnerschaft, Berufsfindung, Abnabelung vom Elternhaus und Familiengründung sind zentrale Wegmarken beim Übergang ins Erwachsenenleben. Die Langzeitstudie kommt zu dem Ergebnis, dass Armut und Armutserfahrungen zu Komplikationen bei der Bewältigung dieser so typischen Entwicklungsschritte führen, deutlich mehr als bei nicht armen Gleichaltrigen. „Insbesondere geht Armut mit geringerem Ausbildungsniveau, geringerer Erwerbsbeteiligung, prekärer Beschäftigung und früher Familiengründung einher.“
Unter den Studienteilnehmern, die in einkommensarmen Familien aufwuchsen, liegt der Anteil derer, welche die Armut ins Erwachsenenleben mitnehmen, bei 36 Prozent. Zwei Drittel ließen die Armut hinter sich, und zwar mit dem Verlassen des Elternhauses. Große Bedeutung hat der Abschluss einer erfolgreichen Ausbildung mit chancenreichem Zugang zum Arbeitsmarkt. Kinder, die nicht in einer armutsgefährdeten Familie groß werden, kommen hingegen auch später kaum mit Armut in Berührung. Knapp 70 Prozent der Studienteilnehmer hatten der Untersuchung zufolge zu keinem Zeitpunkt materielle Not erlebt.
Auch wenn es starke Verbindungen gibt: Kinderarmut schlägt sich nicht automatisch negativ im späteren Leben nieder. Bei jedem vierten Kind konnten keine Armutsfolgen nachgewiesen werden. Eine weitere gute Nachricht: Unterstützung in Kindheit und Jugend in der Familie oder durch außerfamiliale Bezugspersonen können Armutsverläufe durchbrechen. Familien können Armut aber auch verstetigen. „Diejenigen Befragten, die im jungen Erwachsenenalter bereits eine Familie gegründet haben, sind überdurchschnittlich häufig arm.“
Die AWO forderte eine Sozialpolitik, die sich auf „nachhaltige Armutsprävention“ richten solle, anstatt Armutsfolgen nachträglich aufzufangen. Wichtige Maßnahmen sind:
AWO-Bundesvorsitzender Wolfgang Stadler hebt ein zentrales Ergebnis der Studie hervor: „Übergänge sind Scheidewege. Wenn es an diesen sensiblen Übergangsphasen im Leben passende soziale Dienstleistungen und ein funktionierendes soziales Netz gibt, dann steigen die Chancen der Betroffenen, der Armut zu entkommen.“
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (Hrsg.):
Wenn Kinderarmut erwachsen wird. Kurzfassung der Ergebnisse der AWO-ISS-Langzeitstudie zu (Langzeit-) Folgen von Armut im Lebensverlauf. Frankfurt am Main 2019, 22 Seiten
www.iss-ffm.de
Iriana Volf / Claudia Laubstein / Evelyn Sthamer u.a.,
Wenn Kinderarmut erwachsen wird. AWO-ISS-Langzeitstudie zu (Langzeit-)Folgen von Armut im Lebensverlauf. Frankfurt a. M. 2019 (Langfassung des Abschlussberichts als Buch, zu bestellen über info@iss-ffm.de)
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