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Die coronabedingte Lage in Krankenhäusern und Altenheimen hatte sich zwischenzeitlich entspannt, jetzt steht das Gesundheitswesen in erhöhter Bereitschaft. Und trotz vielfach beschworener „Systemrelevanz“ führen Stress und Personalmangel im Pflegebereich unvermindert Regie. Wie können die Beschäftigten die psychischen Herausforderungen des Pflegealltags bewältigen, welche Strategien unterstützen ihre Gesundheit? Die Trendinfo-Redaktion sprach mit Prof. Dr. Andrea Chmitorz von der Hochschule Esslingen über Resilienz.
Andrea Chmitorz: Typische Fehler können einerseits auf persönlicher Ebene liegen – Symptome psychischer Überlastung werden ignoriert oder heruntergespielt. Aus der Forschung ist auch eine übermäßige Verausgabungsbereitschaft insbesondere bei gleichzeitig bestehender geringer Belohnung, zum Beispiel hinsichtlich Einkommen, Aufstiegsmöglichkeiten, Anerkennung oder Wertschätzung, als Stressursache bekannt. Andererseits spielen aber auch verhältnisbasierte Faktoren eine wichtige Rolle. Hier ist etwa ein intransparenter, autoritärer oder anderweitig problematischer Führungsstil zu nennen, des Weiteren die Stigmatisierung von Symptomen psychischer Überlastung in der Organisation oder ein Mangel an Ruheräumen und Erholungszeiten für die Mitarbeitenden.
Man denke nur an den Wegfall der Unterstützung durch nahestehende Angehörige in der Altenpflege wegen der Kontaktbeschränkungen im beruflichen Bereich oder an den zusätzlichen Aufwand für die Pflege Angehöriger oder für Kinderbetreuung im privaten Umfeld.
Das Konzept der psychischen Resilienz beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass Menschen trotz hoher mentaler Belastung psychisch gesund bleiben oder nur vorübergehend erkranken. Es kann helfen, die individuelle psychische Widerstandskraft zu stärken. Ging man früher davon aus, dass Resilienz eine relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft ist, sieht man sie heutzutage eher als dynamischen Prozess, der erlernbar und trainierbar, aber leider auch verlernbar ist.
Da gibt es mehrere Ansätze. Ein bewährter Faktor ist die kognitive Flexibilität, also die individuelle Fähigkeit, durch flexibles Denken und Handeln auf Veränderungen zu reagieren. Im Rahmen eines Trainings unterstützt man die Teilnehmenden darin, neutrale oder positive Neubewertungen für eine aktuell schwierige Situation zu finden.
Weiterhin wichtig ist die Selbstwirksamkeitserwartung, also das Vertrauen, Anforderungen mittels eigener Fähigkeiten bewältigen zu können. Auch das lässt sich üben, etwa durch die Reflexion bereits erfolgreich bewältigter schwieriger Situationen.
Soziale Unterstützung, also der Zugriff auf soziale Netzwerke – privat, wie auch beruflich – stellt ebenfalls einen wichtigen Resilienzfaktor dar. In einem Training würde man hier beispielsweise das Potenzial positiver sozialer Kontakte im persönlichen Umfeld analysieren.
Ganz so einfach ist das nicht. Das Resilienz-Konzept hat wenig mit Selbstoptimierung bzw. Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit zu tun, obwohl es an die individuelle Ebene anknüpft. Außerdem muss neben persönlichen Veränderungen auch immer eine Verbesserung suboptimaler Arbeitsbedingungen erfolgen.
Was können Einrichtungen für die Stressresistenz ihrer Beschäftigten tun? Notwendige Veränderungen individueller Verhaltensweisen bedürfen der Unterstützung im beruflichen Umfeld. Dazu zählt von Seiten der Führungskräfte eine regelmäßige, idealerweise geleitete Reflexion des persönlichen Führungsstils. Wichtig sind auch eine offene und vor allem wertschätzende Kommunikation mit den Mitarbeitenden sowie eine Überprüfung der Arbeitsbedingungen.
Kollegiale Unterstützung ist für die Bewältigung beruflicher Anforderungen wichtig, gerade in Zeiten hoher Anspannung. Beispielsweise kann das Konzept der Achtsamkeit, welches Bestandteil in zahlreichen Trainings zur Resilienzsteigerung ist, in diesen Situationen dazu beitragen, dass emotionale Verhaltensweisen besser wahrgenommen werden und keine stressbedingt automatisierte Reaktion erfolgt. Achtsamkeit wird als Lenkung der Aufmerksamkeit auf die im gegenwärtigen Moment vorhandene Wahrnehmung – bewusst, absichtsvoll und nicht wertend – verstanden. Dazu eignen sich regelmäßige Übungen, die in den Alltag integriert werden können, zum Beispiel das „achtsame Gehen“, bei dem die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Gehens an sich gelenkt wird.
Das dauerhafte Überschreiten individueller Belastungsgrenzen kann mit einem verstärkten Risiko für psychische und physische Erkrankungen einhergehen. Die Stärkung der psychischen Widerstandskraft allein ist also kein Allheilmittel. Es sollte Pflegekräften im Rahmen ihres Arbeitsumfelds zugestanden werden, ihre Belastungsgrenzen im persönlichen und beruflichen Umfeld zu erkennen und zu akzeptieren, um nicht in den Kreislauf von Überlastung, Verleugnung der eigenen Grenzen und Stigmatisierung von psychischen Symptomen zu kommen.
Wie lässt sich außerdem noch am psychischen Wohlergehen feilen?
Die Orientierung an den eigenen Werten erlaubt, das Leben auch in Phasen mit erhöhter Belastung als wertvoll zu sehen. Die individuelle Überzeugung, dass das Leben trotz Unwägbarkeiten, Risiken und Belastungen verstehbar, bewältigbar und sinnhaft ist – in der Literatur als „Kohärenzgefühl“ bezeichnet – ist ebenfalls von großer Bedeutung für die Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit in schwierigen Zeiten. Nicht zu vergessen eine gesundheitsförderliche Lebensweise: mit einem ausreichenden Maß an körperlicher Aktivität, ausgewogener Ernährung, sozialen Kontakten sowie ausreichend Erholungs- und Ruhezeiten.
Prof. Dr. Andrea Chmitorz ist Professorin für Gesundheitswissenschaften und psychologische Psychotherapeutin. Sie forscht und lehrt an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Fachgebiet Gesundheitswissenschaften für Pflegeberufe.
Andrea Chmitorz u. a., Die psychische Gesundheit stärken – Schutz für Pflegende in der Corona-Krise, in: Die Schwester, der Pfleger, 05/2020, Seiten 30-33
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