Suche
Teenager sind heute von einer „neuen Ernsthaftigkeit“ erfasst: Glamour, Spaß und Action haben für sie an Glanz verloren, Leistung und Verantwortung, Familie und Freunde stehen hoch im Kurs. „Jugendliche schauen insgesamt nicht pessimistisch in die Zukunft, uneingeschränkt optimistisch jedoch auch nicht“, beschreibt die Sinus-Jugendstudie 2020 die Stimmung. Die befragten 14- bis 17-Jährigen bilden ein breites Spektrum jugendlicher Lebenswelten ab, haben aber einiges gemeinsam: Sie sind „ernster“ und „besorgter“ als früher – gesellschaftliche Polarisierung und die Klimakrise bedrücken sie.
Welche Themen und Werte sind jungen Menschen wichtig, welche Sorgen treiben sie um? Das untersucht die Sinus-Studie des Heidelberger Instituts für Markt- und Sozialforschung seit 2008 alle vier Jahre. 72 Teenager wurden diesmal interviewt, die Erhebung ist, anders als die Shell-Studie, nicht statistisch repräsentativ. Heraus kommen Stimmungsbilder von hoher Tiefenschärfe, keine Prozentzahlen. Auftraggeberin der Studie ist unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung.*
Die Äußerungen in den Interviews drücken eine riesige Meinungsvielfalt aus. Einige Beispiele zu unterschiedlichen Themenbereichen:
Sämtliche Äußerungen der Befragten ordnen die Forscher*innen in sieben jugendliche Lebenswelten ein, die sie als „prekär“, „traditionell-bürgerlich“, „konsummaterialistisch“, „adaptiv-pragmatisch“, postmateriell“, „expeditiv“ und „experimentalistisch“ beschreiben. Diese Milieus werden in der Studie jeweils mit niedriger, mittlerer und hoher Bildung gekreuzt. Auf diese Weise entsteht ein komplexes Raster jugendlicher Lebens- und Stimmungslagen. Zugleich sind sämtliche Milieus in ihren subkulturellen Facetten durch altersübergreifende Gemeinsamkeiten verbunden, legt die Studie nahe.
Die Unübersichtlichkeit der Welt treibt auch bei Heranwachsenden den Megatrend des „Regrounding“ an: die Sehnsucht nach stabilen Beziehungen, nach Orientierung und Heimat. Aufbruch und Abenteuer scheinen heutigen Jugendlichen keine bestimmenden Triebfedern zu sein. Sie beschreiben sich selbst als „bodenständig“, ihre Lebensentwürfe zielen ganz pragmatisch auf Schule, Ausbildung bzw. Studium, Beruf und Familie. Die Kirche spielt keine besondere Rolle für ihre moralische Orientierung, deren karitatives Engagement wird aber geschätzt.
Viele Befragte bedauern eine „Jeder-für-sich“-Mentalität und fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie haben Angst vor Polarisierung, Aggression und Hass, vor allem bildungsferne Jugendliche, die solche Negativströmungen aus dem eigenen Alltag kennen. Der Trend zu Ich-Zentriertheit und Selbstoptimierung („sich gut verkaufen“) schwächt sich ab, Konkurrenz- und Effizienzdenken schlägt Skepsis entgegen. Ein sicheres Einkommen ist den Befragten wichtiger als Status, Erfolg und Reichtum. „Ein dominanter Zukunftswunsch vieler Jugendlicher ist es, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen, materielle Wünsche und Ziele werden relativiert“, fasst die Studie zusammen.
Wenn das Lamento über die „unpolitische Jugend“ jemals zutraf – heute ist es bestimmt falsch. Politischer Protest fokussiert sich in der Sorge um den Klimawandel, in der Angst vor der fortschreitenden Zerstörung von Zukunftsperspektiven. Die Klimakrise werde von der älteren Generation nicht ernst genommen, Problemlösungen auf die lange Bank geschoben, so die vorherrschende Jugendmeinung. Empörung und das Gefühl der Selbstverantwortung befeuern das Engagement vieler Teenager für die „Fridays for Future“-Bewegung. „Längst haben Jugendliche die Lösung der Klimakrise als zentrale Frage der Generationengerechtigkeit für sich identifiziert“, fanden die Sinus-Forscher*innen heraus.
Die etablierte Politik steht für ein entrücktes Universum, fernab der eigenen Lebenswelt. Bereits die Schule wird von den Teenagern als Lernort wahrgenommen, an dem es für sie keine Mitbestimmung und -gestaltung gibt, auch wenn sie den Alltag dort ansonsten „ganz okay“ finden. Hier dürfte jenes Grundgefühl seine Wurzeln haben, das die Haltung vieler Jugendlicher zur Politik prägt: das Empfinden, von den Erwachsenen nicht gehört und ernst genommen zu werden. Ob aus Frust und Widerspruch eine dauerhafte politische Teilhabe hervorgehen wird, ist nach Meinung der Studienautor*innen nicht sicher – das neue politische Interesse korrespondiert nicht mit einer Zunahme des Engagements in Parteien und Vereinen.
Die jungen Studienteilnehmer sind keine Kinder von Traurigkeit – Zeit haben, chillen und ein entspanntes Verhältnis zum Konsum sind ihnen wichtig. Doch ungestümes Sturm-und-Drang-Gebaren gehen ihnen ab. „Fast erscheint es, als sei der Jugend der Spaß abhandengekommen“, heißt es. Kein Wunder, denn weite Teile der Jugend fühlen sich neben der Klimakrise auch durch Zuwanderung, Leistungsdruck in Schule und Arbeitswelt sowie notorischen Zeitmangel verunsichert. Kein eben optimistisches Bild von der Befindlichkeit des Nachwuchses. Aber auch kein rundweg pessimistisches. Denn die Studie beschreibt eine Generation, die pragmatisch in die Welt blickt und lediglich mit ausgewählten Themenbereichen unzufrieden ist.
*„Wie ticken Jugendliche?“ ist eine Studie des Sinus-Instituts im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung, der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, der BARMER, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend, dem Deutschen Fußball-Bund, der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, der Deutschen Sportjugend und der DFL Stiftung.
Marc Calmbach u. a., Wie ticken Jugendliche?
Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Bonn 2020, 623 Seiten
Die Studie kann als gedrucktes Buch bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden. Sie steht auch als ePub kostenfrei zum Download bereit.
Pflege
Was tun gegen psychischen Stress in schweren Zeiten?
Arbeitswelt
Heute Chef, morgen Mitarbeiter – Hauptsache agil
Gesellschaft
„Am liebsten ein Einfamilienhaus irgendwo auf dem Dorf“
Bildung
Brennglas Corona – Lehren aus dem digitalen Kaltstart
Digitalisierung
Achter Altersbericht: Problem erkannt, noch nicht gebannt
Klimawandel
Grüne Flächen braucht die Stadt
Buchempfehlung
Dirk Gratzel: Projekt Green Zero
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail