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Mein konsequenter Weg zu einer ausgeglichenen Ökobilanz
Ludwig Verlag München 2020, 18,- Euro
Dr. Dirk Gratzel aus Aachen ist CEO und Mitgründer des Unternehmens Precire, das über künstliche Intelligenz Sprache analysiert, die darüber mit Psychologie, Emotionen und Eigenschaften eines Menschen vertraut machen will. Eine Technologie, die immer öfter bei Bewerbungsgesprächen zum Einsatz kommt. Neben seinem Unternehmen hat Dirk Gratzel privat ein äußerst ambitioniertes Großprojekt: Ende 2016 entschied der wohlhabende Unternehmer, sich aus dieser Welt mit einer ausgeglichenen Ökobilanz zu verabschieden und seinen fünf Kindern und nachfolgenden Generationen nicht seine CO2-Sünden zu hinterlassen. Über sein „Projekt Green Zero“ erschienen einige der ersten größeren Presseartikel vor zwei Jahren sogar in englischen Zeitungen.
Es gab mehrere Gründe, weshalb sich Dirk Gratzel vor gut drei Jahren, an seinem 50. Geburtstag, zu einem radikalen Selbstversuch entschloss. Der erfolgreiche Öko-Unternehmer aus Aachen wollte nicht nur die Ökobilanz seines Lebens auf Null bringen, sondern auch die bisherigen angehäuften Klimaschulden ausgleichen. Durchschnittlich produzieren nicht nur Deutsche elf Tonnen CO2 im Jahr. Um das Ziel zu erreichen, die Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen, dürfte jeder Europäer nur zwei Tonnen CO2 auf der Haben-Seite verzeichnen.
Auslöser des Projekts Green Zero waren zum einen seine fünf Kinder, die ein komplett anderes Leben führten als ihr erfolgreicher Vater: Sie arbeiteten weniger, hatten alle kein Auto und ernährten sich teilweise vegetarisch. „Sie waren auf eine natürliche Weise nachhaltiger unterwegs als ich“, schreibt Dirk Gratzel. Außerdem stellte der leidenschaftliche Jäger aufgrund der alarmierenden Berichterstattung über den Klimawandel fest: Sein bisheriges Leben und die Natur, die er doch so sehr liebt, passen nicht zusammen.
Oft kommt der ökonomische Erfolg aus einer Lebensweise, die besonders viele Ressourcen verbraucht“, bilanziert Dirk Gratzel im Gespräch mit unserer Autorin. „Dazu gehören viele Reisetätigkeiten, schnelle Autos, zahlreiche Flüge, große Büros, jeden Tag ein sauberes Hemd oder jede Menge Anzüge – und all das provoziert Emissionen.“ Der ehemalige Top-Manager fragte sich, ob nicht gerade er eine besondere Verantwortung trägt, weil er es sich leisten kann, das wieder gut zu machen, was er sich aufgrund seines ressourcenintensiven Lebensstils ökonomisch als Vorteil erarbeitet hat. Anders ausgedrückt: „Ich habe 50 Jahre wie ein ökologischer Rüpel gelebt und hatte kein Problem damit, jetzt habe ich mich entschieden, das zu ändern.“
Den eigenen ökologischen Fußabdruck auf ein Minimum zu reduzieren ist im Grunde mit dem herkömmlichen Lebensstil kaum zu schaffen. Mit Forschern von der Technischen Universität (TU) Berlin, die sich auf Ökobilanzierung spezialisiert haben, ermittelte Dirk Gratzel, wie er es doch erreichen kann, frei von Klimasünden zu sterben. Das war auch für die Wissenschaftler Neuland. Erstaunlicherweise hatte bisher noch keiner versucht, den eigenen ökologischen Schaden zu kompensieren und „seine Restlaufzeit zu optimieren“, wie der Autor es nennt. Für die Wissenschaftler ist der private Konsum für etwa 64 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich.
Um seine individuelle Ökobilanz auszurechnen, listete der Ex-Vorstand eines großen Unternehmens zunächst den kompletten Besitz in seinem großen denkmalgeschützten Haus auf. Unterhaltsam beschreibt Dirk Gratzel wie er den kompletten Hausstand, Socken, Geschirr oder Putzmittel auf Herkunft, Beschaffenheit und Verschleiß untersuchte. Dann führte er zwei Monate akribisch Buch, was er aß und was er kaufte, wie er sich fortbewegte, wieviel sein Müll wog. Aufschlussreich erläutert der Familienvater, wie mühsam es war zu ermitteln, wo seine Socken produziert wurden oder woher der Fisch stammte, den er im Restaurant aß. Was bei den Köchen einige Irritationen hervorrief. „Die Wissenschaftler waren vergleichsweise streng mit mir und duldeten keine Halbherzigkeiten“, erinnert sich der promovierte Jurist.
Die TU Berlin stellte fest: Dirk Gratzel produziert jährlich 27 Tonnen CO2, das sind 16 Tonnen mehr als der Durchschnitt. Für den Unternehmer war es „kein schönes Gefühl“ gewesen, das zu realisieren. Durch seinen Lebensstil hat er allein 600 Kilogramm Phosphat in Gewässer eingebracht, und zwar durch Reinigungsmittel, Waschmittel, Kosmetika.
„Wissenschaftler sind in ihrer Klarheit und Präzision sehr nüchtern und humorlos, da schluckt man schon“, sagt Dirk Gratzel. „Ich habe einiges an innerer Verwirrung erlebt, dass ich mir mit großer Selbstverständlichkeit und ohne böse Absicht viel mehr herausgenommen habe, als wirklich gesund, angemessen und nachhaltig gewesen wäre. Das wurde offenkundig in dem Moment.“
Viele Daten der Wissenschaftler sind schwer verständlich, zeigten aber bei Dirk Gratzel Wirkung. Die zweite Phase hieß Verzicht. Seinen PS-starken Sportwagen tauschte der Autor gegen einen Hybrid, nach einer Energieberatung ließ er in seinem denkmalgeschützten Haus in Aachen die Heizung modernisieren. Gekauft werden nur noch regionale und saisonale Lebensmittel, keine Milchprodukte mehr. Dirk Gratzel duscht nur noch 45 Sekunden und an Fleisch gibt es in der Familie und für den Hund lediglich selbst erlegtes Wild. Der Grund: Weil es nicht gezüchtet wird, ist die Ökobilanz bei Wild gleich null. Zu dem stringent klimafreundlichen Leben des Autors gehört auch: Keine Flüge mehr. Ins Büro fährt der passionierte Sportler mit dem E-Bike, zu Geschäftsterminen in ganz Deutschland nimmt er meist die Bahn. Das dauert zwar länger, bringt aber Entschleunigung, schreibt der Unternehmer
Für die Verbesserung der Ökologie seines aktuellen Lebensstiles sei die Pandemie tatsächlich sogar ein Vorteil gewesen, räumt der Unternehmer ein. „Homeoffice und Video- oder Telefonkonferenzen haben sich wirklich etabliert.“ In der Vergangenheit hatte Dirk Gratzel oft den Eindruck, seine Bitte um ein Telefonat statt eines persönlichen Gespräches wurde als Mangel an Respekt, an Ernsthaftigkeit oder an Bemühen angesehen. „Das ist völlig weg. Ich habe noch nie so geringe Reisetätigkeiten gehabt wie in den letzten Monaten. Da ist Corona tatsächlich ein Vorteil.“
Der CO2-Ausstoß von Dirk Gratzel ist zuletzt auf sieben Tonnen im Jahr zurückgegangen. Damit ist er zwar von den international formulierten zwei Tonnen pro Mensch noch weit entfernt. Aber er hat mittlerweile alle aktuellen Schadwirkungen auf Boden, Luft, Wasser und Klima bis ins maximal Mögliche reduziert. Es geht ihm nicht darum, die Welt zu retten, schreibt der Autor, sondern sich selbst. Er bestreitet vehement, dass Klimaschutz nur für Menschen mit Wohlstand möglich ist, gibt aber zu, dass es mit Geld einfacher ist. „Ich vermisse nichts“, freut sich Dirk Gratzel. Jedoch alte Gewohnheiten können durchaus hartnäckig sein: „Ich schlage im Restaurant die Speisekarte auf und bleibe am Schnitzel hängen.“ Erst nach einem kurzen Moment des Überlegens, entscheidet er sich gegen den Konsum, der nicht nachhaltig ist. „Dadurch hat mein Leben nicht an Qualität eingebüßt, ganz im Gegenteil.“
Mittlerweile ist der Autor in der dritten Projektphase, der Kompensation. Dirk Gratzel hat in Marl bei Münster zwei Bergwerksbrachen gekauft, die seit zehn Jahren verfallen. Begleitet von Forschern sollen auf dem elf Hektar großen Gelände möglichst viele Biotope entstehen: Dazu gehört ein Wald, der hilft Kohlenstoff zu binden oder Wiesen mit alten Streuobstsorten. Der frühere Top-Manager wurde im Ruhrgebiet, im Schatten einer Zeche geboren. Dass er tatsächlich eine Zechenbrache gekauft hat, um sie in gute Biologie, Ökologie oder Natur zurückzuverwandeln verbindet ihn emotional mit früheren Generationen. „Meine Großväter haben unter Tage im Ruhrgebiet gearbeitet. Was meine Großväter und mein Vater mir als Wohlstand hinterlassen haben, hatte ein paar ökologisch nachteilige Folgen und das kompensiere ich jetzt und ich mache aus den Flächen wieder gute Natur. Damit auch für kommende Generationen mit diesen Flächen ein gutes Leben möglich ist.“
Dirk Gratzels „Green Zero-Projekt“ hat für sich genommen keine Auswirkungen auf die Erderwärmung. Trotzdem sind der Enthusiasmus und die Hingabe des Autors ansteckend. Man fühlt sich beim Lesen weniger allein mit den eigenen Umwelt- und Klimasünden, mit den eigenen Überlegungen, ob es nicht doch möglich ist, ein Stückweit klimafreindlicher zu leben. Für viele steckt hinter der Vorstellung vom nachhaltigen Leben nur Verzicht, der teuer und für normale Menschen nicht praktikabel ist. Erst wenn CO2-Sparen zum Volkssport wird und viele Nachahmer findet, entsteht bei immer mehr Menschen ein grüner Fußabdruck, erzählt der ehemalige Klimasünder.
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