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Westend Verlag, 26,00 Euro, 367 Seiten
Die griechische Insel Lesbos beherrschte lange Zeit die Schlagzeilen. Grund war das Flüchtlingslager Moria. Von 2015 bis 2022 war die Trauma-Expertin Katrin Glatz Brubakk aus Trondheim zwölfmal auf Lesbos, mal ein paar Wochen, mal ein halbes Jahr. Zuletzt arbeitete die deutsch-norwegische Kinderpsychologin in „Moria 2.0", dem Übergangslager Kara Tepe II. Der Nachfolger des 2020 abgebrannten Camps Moria ist inzwischen ein Hochsicherheitslager. Die schlechten Bedingungen im Lager Moria sind von der Politik gewollt, schreibt Katrin Glatz Brubakk gemeinsam mit der norwegischen Journalistin Guro Kulset Merakerås in „Inside Moria. Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit“.
Im August 2015 stolperte Katrin Glatz Brubakk eher zufällig in diesen Teil der europäischen Flüchtlingsgeschichte, wie sie es nennt. Es habe sie kalt erwischt, als sie beruflich auf Lesbos war und plötzlich Bootsflüchtlingen an Land half, am Straßenrand Kinder, Kranke und alte Menschen sah und vor den mit Stacheldrahtzäunen gesicherten Toren von Moria stand. Sie beschloss zu helfen, sammelte gemeinsam mit ihrem Mann im norwegischen Trondheim 300 Paar Schuhe, 1500 Regencapes und acht Kilo Strümpfe ein.
Die ersten sechs Mal nahm Katrin Glatz Brubakk Urlaub, um ehrenamtlich in Moria zu arbeiten, später war sie für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Acht Jahre erlebte die Trauma-Expertin die verheerende Situation der Flüchtlinge in Moria, mal ein paar Wochen, mal ein halbes Jahr. Der Einsatz war eine Verpflichtung, sagt Katrin Glatz Brubakk, die sich einen Glückspilz nennt, weil sie in Norwegen geboren wurde, starke Eltern hatte und alles mitbekam, um ein gutes Leben zu führen.
„Wir wissen genau, was es bedeutet, drei, vier Jahre in diesem Lager leben zu müssen, man kriegt Retraumatisierung“, sagt Katrin Glatz Brubakk im Skype-Gespräch mit unserer Autorin. „Viele Kinder werden deprimiert, kriegen Angstanfälle, manche gerade mal zwei, drei Jahre alten Kinder versuchen sich selbst zu schädigen, ein wenig ältere Kinder versuchen sogar, sich umzubringen. Deswegen finde ich es extrem hart, in Moria zu arbeiten. Es ist sehr, sehr schwer, dabei Zeugin zu sein.“
Traumatisierten Menschen auf der Flucht zu helfen, das hat Katrin Glatz Brubakk bereits im Kongo, in Ägypten, auf Rettungsschiffen im Mittelmeer und gemeinsam mit ihrem Mann Lars im Libanon gemacht. Zuletzt war die Kinderpsychologin im Westjordanland in Palästina. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen Moria und vielen anderen Orten, wo ich gewesen bin. Die desaströsen Bedingungen im Lager sind gewollte Politik. Die Leute sollen abgeschreckt werden, nach Europa zu kommen.“
Ein Drittel der Menschen, die aktuell in Kara Tepe II leben – bei den Behörden heißt das Lager inzwischen offiziell Mavrovouni – sind Kinder. Das Leid der Kinder, die seit dem Brand in Moria im Übergangslager Kara Tepe II leben, hat für Katrin Glatz Brubakk noch einmal eine andere Dimension. In „Inside Moria“ schreibt die Autorin mitfühlend von Panikattacken, Albträumen, schweren Depressionen bis hin zu Suizidversuchen der Kinder: „Ich würde den Kindern die 'Diagnose Moria' stellen, denn sie würden diese Symptome nicht zeigen, wenn sie nicht gezwungen wären, in Moria zu leben.“
Für die Trauma-Expertin können Kinder, die jahrelang in großer Unsicherheit leben, kaum lernen, ihre Gefühle zu regulieren. „Eigentlich sollten sie ihre Energie und ihre Kraft zur normalen Entwicklung des Denker-Gehirns benutzen, wie wir es nennen. Stattdessen sind die Kinder damit beschäftigt, sich zu fürchten, ständig über die Schulter zu gucken und aufzupassen, dass nichts Gefährliches passiert.“ Gerade in dieser Lebensphase sei es enorm wichtig, zu lernen, wie man sich konzentrieren kann, wie sich der Tag gut organisieren lässt und wie man Impulse stoppen kann. „All diese Sachen, die nötig sind, um später als Erwachsener gut zu funktionieren, werden nicht entwickelt“, beobachtet Katrin Glatz Brubakk. Deswegen sind die Traumata ihrer Meinung nach prägend weit über Moria hinaus, „letztendlich für das ganze weitere Leben.“
Für Katrin Glatz Brubakk ist das Flüchtlingscamp kein sicherer Ort. Die Phase der Brutalisierung begann für die Psychologin Ende 2022: Zwei Jahre, nachdem das alte Moria-Lager abgebrannt war, wurden die Menschen aus dem kommunal verwalteten Lager Kara Tepe vertrieben. Dort waren private Initiativen zugelassen, erinnert sich die Autorin. „Es wurden privat Frisöre angeboten, es gab Buden mit Ladekabeln, Obst oder Klamotten. Brotöfen wurden in die Erde gebaut, das Brot war sehr lecker, all das war erlaubt, dadurch hatten viele Einkommen und Tagesinhalt.“
Jetzt sind alle privaten Initiativen verboten, weiß Katrin Glatz Brubakk, die nach dem Brand noch viermal im Übergangslager Kara Tepe II gearbeitet hat. In Moria 2.0, wie es auch genannt wird, leben die Menschen zusammengepfercht wie in einem Freiluftgefängnis. Bewaffnete Wachleute patrouillieren zwischen den Zelten, angeblich, um auf die Kinder aufzupassen. „Die Menschen wohnen hinter Stacheldrahtzäunen, werden jedes Mal von einer bewaffneten Wache kontrolliert, wenn sie aus dem Lager gehen und wenn sie zurückkehren. Die Vorstellung, jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, würde mich ein Wächter mit einer großen Waffe abtasten und in alle meine Taschen gucken, das ist doch kein Zuhause. Das ist doch nicht das Gefühl von der Geborgenheit, die wir alle brauchen, auch die Menschen auf der Flucht.“
Die Psychologin erinnert sich, dass diese Sicherheitsmaßnahmen letztendlich nutzlos waren und die Vergewaltigung eines dreijährigen Mädchens nicht verhindern konnten.
„Ich werde von einem inneren Bild verfolgt. Jedes Mal, wenn es auf der Netzhaut auftaucht, durchfährt ein Schauder meinen Körper, und ich kann es nicht kontrollieren. Ich sehe sie vor mir: Sie wollte nur ein wenig spielen und endete auf dem Boden eines übelriechenden Festivalklos. Der kleine Körper war zur Hälfte entkleidet und hatte Verletzungen am Unterleib.“
Die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, die derzeit wieder als Universitätsdozentin im norwegischen Trondheim arbeitet, beschreibt auch Erfolgsgeschichten. Etwa von Sophie aus dem Iran, die mit streng religiösen Eltern aufwuchs und deren Geschwister mit 14 Jahren verheiratet wurden. Das wollte sie nicht, erzählt Katrin Glatz Brubakk. Sie wollte ein anderes Leben, wurde Architektin, ehe sie allein über die Türkei flüchtete, bis sie nach Moria kam. Über die drei Fluchtjahre spricht Sophie nicht, aber die Autorin ahnt, was sie erlebt hat. Sie habe mit vielen jungen Frauen und auch jungen Männern gesprochen, die sexuelle Gewalt erlebten. „Die gezwungen wurden, als Sexsklaven zu arbeiten oder in kleinen Zimmern eingeschlossen wurden, tagsüber putzen mussten, sehr oft kam sexuelle Gewalt mit dazu.“
Für Katrin Glatz Brubakk ist Sophie „eine der stärksten Frauen, die ich in Moria erlebt habe“. Sie habe angefangen, für eine kleine Organisation zu arbeiten, die psychosoziale Unterstützung für Kinder und Frauen gibt. „Erst als Dolmetscherin, nach und nach als Therapeutin.“ Heute arbeitet Sophie bei Ärzte ohne Grenzen in Moria und träumt davon, eines Tages ihre Ausbildung nutzen zu können. „Diese Stärke, durch so viel Schweres zu gehen und trotzdem anderen zu helfen und eigentlich ja ein gutes Leben für sich selber zu schaffen, das bewundere ich sehr“, sagt die Therapeutin.
Sie habe das Buch auch geschrieben, um zu dokumentieren, was eine solche Politik psychologisch mit den Menschen macht, die unter diesen Bedingungen in Moria leben. Was Katrin Glatz Brubakk am Herzen liegt: Dass Politikerinnen und Politiker dieses Buch lesen und wir die Flüchtlingsdebatte wieder hochholen, wie die Autorin es ausdrückt. Es geht ihr vor allem um die Frage: „Ist dies der Weg oder ist dies die Art, wie wir Menschen auf der Flucht behandeln wollen? Meine Antwort ist natürlich: Nein. In einem Weltteil, wo wir immer sagen, dass Menschenrechte und Mitmenschlichkeit wichtig sind, können wir das einfach nicht weiter zulassen.“
In „Inside Moria“ ordnet die norwegische Journalistin Guro Kulset Merakerås lesenswert Katrin Glatz Brubakks Beobachtungen in einen größeren psychologischen, politischen und historischen Zusammenhang ein. Gemeinsam geben sie Einblick in eines der dunkelsten Kapitel der europäischen Zeitgeschichte, nennen es „Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit“. Die beiden Autorinnen beleuchten Flüchtlingsschicksale, die unter die Haut gehen: Schmuggler, Korruption, Vergewaltigung auf den Routen in die versprochene Freiheit. Bürokratische und gesetzliche Anordnungen, die Tür und Tor öffnen für Willkür, Drangsalierung, Not und Tod. Dabei nehmen sie die größten Verlierer in allen Kriegen und Krisen in den Blick: die Kinder. Die erschütternden Geschichten vom Überlebenskampf einzelner Menschen in Moria sind spürbar verknüpft mit dem Wunsch, die Debatte über die europäische Flüchtlingspolitik wieder neu zu eröffnen.
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
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