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Newsletter für das Sozialmanagement
Heyne Verlag, 24,00 Euro, 368 Seiten
Der Journalist Andrian Kreye war lange Korrespondent in New York und hat seit den späten 1980er Jahren die Entwicklung der Digitalisierung von der Subkultur der Programmierer zur Alltagstechnologie begleitet. Weniger als Tech-Experte, eher aus der Perspektive des Chronisten und politischen Reporters. Der preisgekrönte Autor aus München traf in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten Vordenker der digitalen Transformation wie den Vater der KI Marvin Minsky, LSD-Guru Timothy Leary, den Erfinder der virtuellen Realität Jaron Lanier, Bill Gates, Jeff Bezos oder Elon Musk. „Als ich den Digitalpionieren erstmals begegnete, war die digitale Gesellschaft noch eine Vision“, schreibt Andrian Kreye in „Der Geist aus der Maschine“.
Als der damals 26-jährige Kriegsreporter Andrian Kreye Ende der 80er Jahre anfing, in New York für das Zeitgeistmagazin Tempo über Digitalisierung zu berichten, waren Computer noch Büromaschinen. Der Dienstlaptop des Reporters wog sechs Kilo, die Festplatte machte seltsam surrende Geräusche, und weil es so gut wie kein Internet gab, druckte er seine Texte aus, bevor sie per Fax von New York nach München gingen.
Als Kreye 1989 den Auftrag bekam, die Denkfabrik MIT, das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge zu besuchen, hatte er anfangs gar keine Lust auf „diese Computermenschen“. Dort traf er Vordenker von Künstlicher Intelligenz (KI) und der digitalen Revolution, wie den Informatiker Nicholas Negroponte, dessen Motto Atom to bits er ebenso wenig verstand wie den Begriff KI. Nicholas Negroponte war überzeugt, „dass sämtliche Medien vom Telefon über Bücher, Zeitungen, Tonaufnahmen, Film bis hin zum Fernsehen in nicht allzu ferner Zukunft zu einer neuen Kommunikationsform verschmelzen würden, in deren Zentrum der Computer steht“. Was er 1989 der digitalen Welt voraussagte, klang oft größenwahnsinnig, schreibt Andrian Kreye, im Rückblick lag er verdammt richtig.
„Dann gab es eine Begegnung mit Marvin Minsky, heute sehr bekannt als einer der beiden Väter der Künstlichen Intelligenz“, erzählt Andrian Kreye im Zoom-Interview mit unserer Autorin. „Der war damals im MIT Media Lab und ich hatte von ihm noch nie gehört.“ Als der Journalist zugab, dass er bis vor drei Tagen „Computer noch stink-langweilig fand“ und das einzige, was ihn interessierte sei ihre Rechengeschwindigkeit, erklärte im Marvin Minsky: „In Zukunft wird es nicht mehr darum gehen, ob Computer schnell sind oder viel rechnen können“. In Zukunft werde es darum gehen, mit wie vielen anderen Computern der eigene Computer verbunden ist. „Ich habe wirklich nicht verstanden, was er meint. Er hat natürlich das World Wide Web beschrieben.“
In „Der Geist aus der Maschine“ schreibt Andrian Kreye als Zeitzeuge über die euphorische Aufbruchsstimmung der digitalen Wissenschaftler und analysiert unterhaltsam, wie rasend schnell die neue Technologie unser aller Leben verändert hat. Dank des reichen Notizenfundus seiner damaligen Notizbücher sind die Kapitel durchzogen von Anekdoten. So saß Andrian Kreye bei einem Milliardärs-Dinner neben Google-Mitgründer Larry Page, der auf die Frage, worüber er gerade nachdenke, sagte: Wie man auf dem Mond Geld verdient. Als er Amazon-Gründer Jeff Bezos traf, hatte der gerade die Washington Post gekauft und wollte ganz detailliert von dem langjährigen Feuilleton-Chef der Süddeutschen Zeitung wissen, wie seine Zeitung das mit der Digitalisierung mache. Der Autor schildert auch, wieviel Begeisterung es anfangs unter den früheren Hippies in San Francisco für die digitale Kultur gab, – bis Facebook, Google und Amazon zu Monopolen anwuchsen, die seitdem von Finanzströmen beherrscht werden
Da gibt es für Andrian Kreye heute „natürlich sehr viele Fehler, die wir vermeiden könnten“, resümiert er im Gespräch. „Einer der wichtigsten ist, dass wir uns wenigstens im Netz von diesem Wachstumsgedanken freimachen, sofort, wenn man das erste große Geld verdient hat, noch mehr, noch größeres Geld von Risikokapital zu holen, weil das Risikokapital eine Dynamik entwickelt, die schwer aufzuhalten ist.“
Risikokapital und die Börse kümmern sich nicht um das Gemeinwohl, erläutert Andrian Kreye. Seiner Meinung nach sind sie „ein Hauptmotor für sehr viele Dinge, die sich negativ entwickelt haben in den digitalen Räumen. Und das passiert jetzt leider wieder.“
Die Radikalisierung des World Wide Web von rechts begann für Andrian Kreye fast zeitgleich mit der Kommerzialisierung. Ausführlich beschreibt der Autor, wie eine Whistleblowerin 2021 zu ihm Kontakt aufnahm. Facebook war 2017 in Myanmar von der Armee genutzt worden, um Massaker an den Rohingya zu provozieren. Der US-Konzern wurde verklagt, weil er gegen die staatliche Hetze nicht eingeschritten war, obwohl er lange zuvor darauf aufmerksam gemacht worden war.
Facebook kam in ein Land mit bis dahin ein Prozent Internetnutzung. Dank staatlicher Eingriffe wurden Internetzugänge plötzlich äußerst günstig. „In einem Land, wo 99 Prozent der Leute gerade erst den Umgang mit den neuen Medien lernen, merken die meisten gar nicht, dass sie sich nur in oder über Facebook bewegen und dass negative Emotionen, vor allem Hass und Hetze, von den Algorithmen verstärkt werden.“ Mit Blick auf die Verfolgung der Rohingya in Myanmar hatte das für Andrian Kreye „grauenhafte und wirklich fatale Folgen, bis hin zu den Massakern, die dann 2017 passiert sind“. Facebook, einst als Zaubermaschine gesehen, entpuppte sich für den Journalisten als „Höllenmaschine“.
So kritisch Kreye Fehlentwicklungen sieht, so groß ist für ihn auch das positive Potenzial. Die interessantesten Felder sind für den Autor die Chemie, die Meteorologie und die Medizin. Wie etwa die Pharmafirma Moderna: Während der Corona-Pandemie führte sie mithilfe von KI in zwei Tagen Milliarden Versuche durch und konnten so einen Impfstoff finden. Das sei zwar kein Wunder, „aber ein Bild für die Kraft dieser Technologie“. Und die KI „AlphaFold“ von DeepMind, einer Tochtergesellschaft des Google-Konzerns Alphabet, geht für den Autor an die Wurzeln des irdischen Lebens, löst eines der größten Probleme der Wissenschaft: Wie sich Proteine falten.
Niemand weiß, schreibt Andrian Kreye, ob künstliche Intelligenz der Menschheit Schaden zufügen wird, oder ob sie einen Fortschritt möglich macht, der die großen Probleme der Menschheit wie Klimakatastrophe, Krankheit und Seuchen oder den Raubbau der Ressourcen löst. „Wenn man Proteine faltet, kann man daraus dann Medikamente entwickeln, Impfstoffe, Werkstoffe, neue Chemikalien“, sagt der Autor: „Das sind die Sachen, die die Menschheit voranbringen, die das Gemeinwohl im Auge haben.“
Und weiter: „DeepMind hat mit AlphaFold innerhalb von einem Jahr für sämtliche 200 Millionen Proteine, die die Menschheit kennt, die Faltung simuliert. Eine einzige Faltung dauert in der Natur eine Millisekunde, erfordert aber im Labor 2 bis 5 Jahre.“ Der Chef von DeepMind habe durchgerechnet, dass mit AlphaFold in einem Jahr die Arbeitsleistung von einer Milliarde Arbeitsjahren von Wissenschaftlern geschafft wurde. „Da wird einem ein bisschen schwindlig“, sagt Andrian Kreye, „ich glaube, dass da einfach die Potenziale liegen, dass die digitale Technologie uns wirklich voranbringen kann. Bis dahin, dass Krankheiten, die bisher nicht heilbar waren, geheilt werden können“.
KI stellt uns vor ethische Herausforderungen, und die Digitalisierung beeinflusst unser Selbstverständnis. Das europäische KI-Gesetz mache ihm Hoffnung, sagt Andrian Kreye, es sei ein erster und wichtiger, wenn auch noch unvollkommener Schritt in die richtige Richtung. Die Zivilgesellschaft brauche noch breitere Aufklärung, damit sie versteht, dass KI nicht nur eine lustige App ist, sondern wirklich ein Instrument, das etwas bewegt.
Ihm geht es darum, sagt Andrian Kreye, „dass mit künstlicher Intelligenz jetzt ein neuer Geist entsteht, der für sich ein Geist ist und nicht mehr nur ein Verstärker oder ein Spiegelbild des menschlichen Geistes.“ Seiner Meinung nach treten wir jetzt mit KI in eine Phase, „wo etwas entsteht, das wir noch nicht ganz verstehen und mit dem wir auch noch nicht umgehen können“. Es ist ein Maschinengeist, der unser Leben verändern und beeinflussen wird. „Wir müssen anfangen zu lernen, damit umzugehen.“
Anschaulich und mit vielen Bezügen zu Politik und Popkultur, zu Literatur und Wirtschaft schreibt Andrian Kreye über die Historie der KI – und über sein bis heute anhaltendes Staunen. Er nennt „Der Geist aus der Maschine“ ein Herzblutprojekt und bringt seine Faszination für das von ihm aus großer Nähe dokumentierte zeitgeschichtliche Geschehen gekonnt zum Ausdruck. KI ist für Andrian Kreye längst mehr als ein Werkzeug, das Plappergerät Chat-GPT oder die Bildermaschine Midjourney. KI sei zu einer Art kundigem Lebensbegleiter geworden. Der Autor begleitet überaus lesenswert die Entwicklung der digitalen Revolution, beschreibt sie als eine Art Subkultur, die sich zur riesigen Industrie entwickelt hat.
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