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Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen
Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2020, 128 Seiten, 20,- Euro
Gerald Hüther (69) ist zwar offiziell im Ruhestand, versteht sich aber nach wie vor als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlicher Lebenspraxis. Der Neurobiologe und Autor zahlreicher Sachbücher zum Thema Gehirnentwicklung und Gehirnfunktionen beobachtet mit zunehmender Sorge, dass die aktuelle Corona-Pandemie weltweit viele Ängste schürt. Für den Hirnforscher ist es noch nie in der Menschheitsgeschichte vorgekommen, dass sich überall auf der Welt Menschen durch etwas bedroht fühlen, das völlig unerwartet über alle hereingebrochen ist: Das COVID-19-Virus. Gerald Hüther will mit seinem Buch „Wege aus der Angst“ eine Debatte über den Umgang mit Angst anstoßen.
Gerald Hüther weiß: Jeder Einzelne geht anders mit seinen Ängsten um: Während die einen sie schlicht leugnen oder verdrängen, suchen andere nach Schuldigen und Sündenböcken, wieder andere dagegen suchen nach Lösungen. Dabei haben Ängste für ihn gar nicht so etwas Bedrohliches, wie gemeinhin angenommen, und schon gar nicht müssen sie besiegt werden. Sie sind im Grunde überlebensnotwendig. Unsere Autorin Maicke Mackerodt hat mit Gerald Hüther darüber gesprochen, wie es gelingen kann, die Angst zu überwinden und „die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen“.
Es macht Gerald Hüther kurioserweise Angst, „wenn Menschen ständig versuchen, ihre Ängste loszuwerden, anstatt sich die Frage zu stellen, woher sie eigentlich kommen. Und dann einen klaren Blick für das zu entwickeln, was sie in ihrem Leben vielleicht verändern können.“ Sich richtig zu verhalten, wie der Neurobiologe es nennt, kriegen Menschen seiner Meinung nach nur dann hin, wenn sie gelernt haben, sich aus dem Würgegriff der Ängste zu befreien.
Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die Bedrohung wirtschaftlicher Existenzen, der gigantische Schuldenberg und die Aussicht, dass das noch lange so weitergeht, das macht vielen Menschen berechtigt Angst. Viele spüren eindringlich, dass ihr Leben auf bedrohliche Weise ins Wanken gerät. „Unsere Ängste kommen meistens ja nicht dadurch zustande, dass wir etwas ganz Furchtbares erleben, sondern dass wir uns etwas ganz Furchtbares vorstellen, was eventuell eintreten könnte“. Und dann wird nach einer befreienden Lösung gesucht. Deshalb hält es der Autor für wichtig, anstatt die Angst zu unterdrücken, endlich zu lernen, „die Vorstellungen zu hinterfragen, mit denen wir unterwegs sind“.
Angst an sich ist für den Hirnforscher zwar ein unangenehmes, ein bedrohliches und manchmal auch ein lähmendes Gefühl, das schlimmstenfalls Gewalt gegen andere auslösen kann. Für den studierten Biologen aus Göttingen ist Angst aber in erster Linie ein wachsamer Begleiter, eine Art treuer Freund. Sowohl für den Einzelnen, aber auch für die ganze Gesellschaft. Für Gerald Hüther könnten die Menschen ohne Angst gar nicht leben. Sie ermöglicht ihnen seiner Meinung nach erst, aus Fehlern zu lernen. „Wir haben ein formbares und zeitlebens lernfähiges Gehirn“, so Gerald Hüther. „Sobald sich Abgründe oder Irrwege auftun, hilft es uns herauszufinden, worauf es im Leben wirklich ankommt.“
Als der Hirnforscher anfing, sich mit Angst auseinanderzusetzen, habe er noch nicht verstanden: „Mindestens 99 Prozent der Ängste, mit denen wir herumlaufen, sind Ängste, die durch unsere Vorstellungen entstehen. Und nicht durch Realitäten, die dann tatsächlich eintreten.“ Für den Hirnforscher sind wir folglich „Gefangene unserer eigenen Vorstellungen“ und müssen versuchen, einen Weg zu finden, gemeinsam diese Vorstellungen zu hinterfragen. Am Beispiel der Corona-Krise schlussfolgert der Autor: „Nichts spricht dagegen, dass wir in absehbarer Zeit das nächste Virus haben werden, was wieder gefährlich sein wird.“ Für den Autor müssen wir die Illusion aufgeben, alles sei kontrollierbar. „Wir müssen raus aus der Vorstellung, alles, was uns stört, und die Natur, die uns umgibt, könnte von uns beherrscht werden.“
Die gesamte, im kollektiven Gedächtnis verankerte Menschheitsgeschichte ist für Gerald Hüther eine Geschichte, in der das Gefühl der Angst immer auch instrumentalisiert wurde. Mit Angst werden Machtinteressen von Politikern, von einzelnen Herrschern oder von nach Macht strebenden Cliquen durchgesetzt. „Wer es nicht schafft, das zu durchschauen und sich von den bewusst geschürten Ängsten zu befreien, ist verloren“, schreibt Gerald Hüther in „Wege aus der Angst“. Paradox ist für den Hirnforscher: Geschürte Ängste, vorgestellte Ängste und echte Ängste lösen im Hirn alle die gleiche Reaktion aus. Das Gehirn kann nicht unterscheiden, ob die Angst real oder es nur eine Vorstellung ist, zum Beispiel an Corona zu erkranken.
Wer es schafft, die Angstbotschaft zu identifizieren, für den entsteht ein Weg, der unmittelbar in die Freiheit führt: „Es geht mir darum, dass ich nicht möchte, dass Menschen mit Angst machenden Vorstellungen herumrennen und dann das verlieren, was unser höchstes Gut ist in dieser Gesellschaft, nämlich die freie Entscheidungsfähigkeit.“ Dazu gehört für den begeisterten Großvater auch die Fähigkeit, „kritisch sich die Dinge anzuschauen, die in der Gesellschaft oder in der Familie oder in einem selbst ablaufen. Frei entscheiden kann nur, „wer sich nicht von Vorstellungen gefangen nehmen lässt, die das gesamte Denken, Fühlen und Handeln von Menschen bestimmen“. Oder wie es im Untertitel heißt: „Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen.“
Für Gerald Hüther, einen der bekanntesten deutschen Hirnforscher, gibt es eine ganze Reihe von Phänomene, die genau wie COVID-19 das Überleben der Menschheit bedrohen: Treibhausgase, dreckige Luft, abgeholzte Regenwälder, zerstörte Ökosysteme, die kaum noch aufzuhaltende Klimaveränderung sowie unendlich viele Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen. Was Gerald Hüther in seinem Essay nachvollziehbar beschäftigt: Weshalb war nichts davon bisher in der Lage, eine sich derart global ausbreitende Angst auszulösen wie Corona? Genau das ist für den Neurobiologen „der Kern der Geschichte“: „Wir sind dabei, die Ressourcen dieser Erde aufzubrauchen. Wir haben das Klima verändert, die Artenvielfalt auf diesem Planeten ruiniert, und wir wissen nicht, wie wir aus der Nummer wieder rauskommen sollen.“
Für den Autor ist es nachvollziehbar und „sehr menschlich“, sich irgendein Problem herauszugreifen und daran abzuarbeiten. „Denn dann verschwinden vorübergehend die anderen Ängste.“ Corona ist für Gerald Hüther „möglicherweise das Ersatzschlachtfeld, was wir jetzt tapfer bekämpfen, weil es kaum auszuhalten ist, dass wir auf allen anderen Problemfeldern einfach überhaupt nicht mehr weiterkommen.“ Corona bringt für Gerald Hüther „alte, festgefügte Muster durcheinander“. „Im Hirn sind das Verschaltungsmuster und auf gesellschaftlicher Ebene bestehende Strukturen, Verhältnisse und Gegebenheiten, die über die Jahre hinweg entstanden sind.“ Dazu gehört für den Forscher so etwas Simples, wie sein Kind in den Kindergarten zu bringen, was beim letzten Lockdown plötzlich nicht mehr möglich war. Hirntechnisch sind solche Augenblicke für den Autor sehr begrüßenswert, weil diese Auflösung der alten Muster, er nennt es „Destabilisierung alter Muster“ die Voraussetzung sind, etwas Neues denken können, einen neuen Weg einzuschlagen. Insofern ist Gerald Hüther sehr optimistisch, „dass so eine Krise wie diese Corona-Problematik dazu führen wird, dass sehr viele Menschen anfangen, andere Dinge im Leben wichtig zu nehmen. Für den Experten ist das „ein großer Transformationsprozess“.
Dass Reichtum, Macht und Ansehen an Bedeutung verlieren oder dass unser Wirtschaftssystem marode ist und vor dem Zusammenbruch steht – da wird die Zeit zeigen, ob der Autor recht hat. Ansonsten erklärt Gerald Hüther in dem schmalen Band „Wege aus der Angst“ lesenswert und ohne das C-Wort zu benutzen, dass durch so eine Pandemie sogar ein gesellschaftlicher Wandel stattfinden könnte. Der Hirnforscher, der in Göttingen ein Institut für Potenzialentfaltung betreibt und zum Thema Angst bloggt, schätzt: Zwei Drittel der Bevölkerung kehren nach der Pandemie in ihren Alltag zurück und warten nur darauf, dass alles so wird wie vorher. Aber ein Drittel der Bevölkerung wird nach Corona etwas ändern wollen. Und dieses Drittel wird sich seiner Meinung nach bemerkbar machen.
Weitere Informationen:
www.akademiefuerpotentialentfaltung.org/initiativen
Gerald Hüthers Blog zu Angst
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