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Eine Flut von Falschmeldungen und apokalyptischen Prophezeiungen schwappte während der Pandemie an die Öffentlichkeit. Etwa die Behauptungen, das Tragen von Alltagsmasken könne tödlich enden oder die Corona-Diktatur stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Treiber dieser Desinformationsattacken in bis dahin unbekanntem Ausmaß waren soziale Netzwerke wie WhatsApp, Facebook und Youtube, besagt eine Studie im Auftrag der Vodafone-Stiftung. Welche Gefahren für die Gesellschaft gehen von gezielten Falschinformationen aus, welche Abwehrmöglichkeiten gibt es?
Das Corona-Virus hat zu einer regelrechten „Infodemie“ geführt, einer schnellen, massenhaften Verbreitung von Falschinformationen, konstatiert die Studie. Sie beruht auf der Befragung von 63 Fachjournalist*innen, Wissenschaftler*innen, Faktencheckern sowie Vertreter*innen politischer Stiftungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Verunsicherung, Angst und eine komplexe Informationslage haben demnach viele Bürger*innen für Falschinformationen empfänglich werden lassen. Daher wurden Muster infodemischer Manipulation hierzulande auch bei der Flüchtlingspolitik, anlässlich der Flutkatastrophe und vor der Bundestagswahl sichtbar.
Den etablierten Begriff „Fake News“ lehnen die Fachleute als politischen Kampfbegriff ab. Sie sprechen stattdessen von Desinformation, Miss- oder Falschinformation. Wichtigste Plattform für die Verbreitung dieser Art von Mitteilungen ist für sie WhatsApp (92 %), gefolgt von Facebook (89 %) und YouTube (88 %). Auffallend ist die zunehmende Professionalisierung der Kampagnen. Da geht es längst nicht mehr nur um plumpe Falschaussagen, sondern um subtile Verzerrungen, Zwischentöne und das Weglassen von Zusammenhängen. Nicht zu vergessen die manipulative Montage von Fotos und Zitaten, deren Entlarvung selbst Medienprofis mitunter schwer fällt.
„Fast alle Befragten gehen davon aus, dass Miss- und Desinformation weltweit deutliche Auswirkungen haben (werden)“, fasst die Studie das Meinungsbild zusammen. Als größte Gefahr gelten die Polarisierung der Gesellschaft (79 %), die Radikalisierung Einzelner (74 %) und der Glaubwürdigkeitsverlust der Medien (71 %). Für die Bundestagswahl sahen die Befragten zum Zeitpunkt der Umfrage (Mai und Juni 2021) weniger das Risiko einer direkten Wahlmanipulation, als die Gefahr einer grundsätzlichen Beeinflussung der Bürger*innen. Stellvertretend hierzu die Antwort von Alice Echtermann von der Investigativ-Redaktion Correctiv: „Die Manipulation der politischen Meinung der Menschen geschieht langfristig und stetig durch die Polarisierung und Radikalisierung des Diskurses nicht erst im Wahlkampf.“
Die nicht eben überraschende Antwort der Studie: vor allem Menschen, die sich in ihrer Weltsicht bestätigt fühlen wollen. Außerdem spielt das Alter eine Rolle. Entgegen der verbreiteten Meinung, wonach vor allem Jugendliche und junge Erwachsene falschen Informationen aufsitzen, sehen 74 Prozent der Befragten eher Ältere gefährdet. Diese Feststellung bedarf jedoch näherer Erläuterung, hatte doch eine jugendbezogene Studie der Vodafone-Stiftung im Vorjahr immerhin einem Drittel der jungen Leute mangelnde Kompetenz im Umgang mit Falschnachrichten und Verschwörungserzählungen attestiert.*
Zeitungen, Fernsehen und Hörfunk stehen vor einem Dilemma, beschreibt Studienautor Fiete Stegers: „Etablierte Medien sind in der Verantwortung – sie verschaffen Falschinformationen mitunter ein Vielfaches an Reichweite und sorgen dafür, dass sie auch Menschen erreichen, die sonst damit nicht in Berührung kommen.“ 79 Prozent der befragten Expert*innen bestätigen genau diesen kontraproduktiven Mechanismus.
Mehr als 90 Prozent sehen die Plattformen selbst in der Pflicht, tätig zu werden, mehr als 80 Prozent (84 %) die herkömmlichen Medien. Die Rolle des Gesetzgebers hingegen wird eher skeptisch betrachtet – weniger als die Hälfte der Befragten (46 %) plädiert für regulatorische Eingriffe. Alexander Fanta von der Nachrichtenplattform netzpolitik.org rät: „Gesetzlich festgelegt werden könnten allenfalls Transparenzpflichten für Betreiber sozialer Netzwerke, nach welchen Kriterien und mit welchen Verfahren sie gegen Desinformation vorgehen.“
Tatsächlich gewinnt die Frage der gesetzlichen Regulierung sozialer Netzwerke an Brisanz. Das zeigen die Enthüllungen der Whistleblowerin Frances Haugen zu den Geschäftspraktiken von Facebook im US-Kongress. Auch in unseren Breiten regt sich Widerstand. So sagte Justizministerin Christine Lambrecht, dass Appelle an das Verantwortungsbewusstsein der großen Tech-Konzerne nicht ausreichten und Profitinteressen über gesellschaftliche Verantwortung gestellt würden. „Die jüngsten Enthüllungen um Facebook belegen, wie dringend wir in Europa eine starke und wirkungsvolle Regulierung sozialer Netzwerke brauchen. Auch EU-Binnenmarktkommissar Breton sieht erheblichen Regulierungsbedarf.“**
Die befragten Medienexperten betrachten Bildung und Aufklärung (90 %) mit besonderem Fokus auf Medienkompetenz schon in den schulischen Lehrplänen als höchst wichtig. Dabei komme es auf das Zusammenwirken mehrerer Faktoren an, erläutert Simon Hurtz von der Süddeutschen Zeitung in der Studie: „Förderung von Medienkompetenz, Ausbau des glaubwürdigen Journalismus und tiefgründiger Recherche, Maßnahmen, die das Vertrauen in Rechtsstaat und das demokratische System stärken, konsequente Anwendung bestehender Gesetze.“ Medien müssten mehr Transparenz in eigener Sache wagen, verstärkt über die Mechanismen Sozialer Netzwerke aufklären und mehr Faktencheck-Programme etablieren.
Fiete Stegers, Desinformation in Deutschland. Gefahren und mögliche Gegenmaßnahmen aus Sicht von Fachleuten. Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg im Auftrag der Vodafone-Stiftung, Düsseldorf 2021, 34 Seiten
* Studie zu Desinformation in der Coronakrise: Mehr junge Menschen in regelmäßig mit Falschnachrichten konfrontiert, Düsseldorf 2020, 13 Seiten
www.vodafone-stiftung.de/desinformation-jugend-coronakrise
** Zitiert nach Deutschlandfunk, Bundesjustizministerin und EU-Kommissar für wirksame Regulierung, 07.10. 2021
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