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Die zehn reichsten Menschen der Welt haben während der Corona-Pandemie ihr Vermögen verdoppelt, zugleich wächst die Armut. Und während die sozialen Verwerfungen noch gar nicht ganz abzusehen sind, sorgt ein rasanter Inflations-, Sprit- und Heizkostenanstieg hierzulande schon für weitere Belastungen. Soziale Gerechtigkeit ist das beherrschende Thema dieser Tage. Dabei geht es nicht nur darum, was am Monatsende noch im Portemonnaie ist, sondern auch um soziale Anerkennung und Chancengleichheit. Wie steht es darum in Europa? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) spürt dieser Frage in drei Studien zu Diskriminierung, Job-Gerechtigkeit und sozialer Ungleichheit nach.
Die erste Studie „Frauen sind für Diskriminierung sensibler geworden“ untersucht für 17 europäische Länder zwischen 2008 bis 2018, wie viele Menschen sich subjektiv benachteiligt sehen und warum das so ist. Das Ergebnis ist rückt manches zurecht, zeigt aber auch, was im Argen liegt.
Demnach fühlte sich im genannten Zehn-Jahres-Zeitraum zwar nur ein kleiner Anteil aller Befragten (rund 7 %) diskriminiert. Zugleich sagt Studienleiter Stefan Liebig aber auch: „Seit 2008 beobachten wir, dass die wahrgenommene Diskriminierung ansteigt, insbesondere dort, wo es um die eigene Diskriminierung geht und dort insbesondere bei Frauen.“
Hautfarbe, Nationalität, Religion und Volksgruppe sind die wichtigsten Gründe des Diskriminierungsempfindens (43 bis 49 %), gefolgt von Geschlecht und sexueller Orientierung (15 bis 20 %). Persönliche Herabsetzung aufgrund von Alter und Behinderung gaben nur weniger als ein Fünftel der Studienteilnehmer an.
Der größte Anstieg (rund 90 %) liegt bei Menschen der zweiten Gruppe, die sich wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung herabgesetzt fühlen. Das betrifft vor allem Frauen: „Man könnte auch sagen, dass Frauen sensibler für Diskriminierung sind als Männer“, hält die Studie fest. Wahrscheinlich seien sie heute nicht häufiger benachteiligt als 2008, hätten jedoch eine höhere Sensibilität für gesellschaftliche Benachteiligungen entwickelt. Frauen mit Migrationshintergrund sind überproportional betroffen, mehrdimensionale Diskriminierung, bei der sich mehrere Diskriminierungsformen überschneiden, wurde 2018 doppelt so häufig wahrgenommen wie zehn Jahre zuvor.
Die Hoffnung vieler Menschen auf Chancengleichheit am Arbeitsmarkt wird merklich enttäuscht, ergibt die zweite DIW-Studie. Knapp ein Drittel der Europäer und Europäerinnen (30 %) in 29 Ländern zweifelt demnach an der Chancengerechtigkeit bei der Jobsuche, wurde anhand des European Social Survey mit 50.000 Befragten (2018) ermittelt. „Das ist vor allem deshalb bedenklich, weil der Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle für die Verteilung von Einkommen, Status und Ansehen spielt und damit ein zentraler Ort der Produktion sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft ist.“
In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens wird die Chancengerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt weitaus positiver eingeschätzt als etwa in Südeuropa. Deutschland liegt über dem europäischen Durchschnitt – fast die Hälfte der Befragten vertrat hier die Meinung, dass jede und jeder die Chance habe, die gewünschte Stelle zu ergattern (48 %).
Zentrale Erkenntnis im internationalen Vergleich: „Die Einschätzung der Chancengerechtigkeit geht einher mit der Zufriedenheit mit der Demokratie.“ Zudem werde deutlich, dass das Vertrauen in die Chancengerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt dort groß ist, wo die Arbeitslosigkeit gering und die soziale Infrastruktur stabil ist. Eine nicht eben überraschende Erkenntnis, die aber vor dem Hintergrund erfolgreicher populistischer Bewegungen in Europa klar in ihren politischen Konsequenzen gedeutet werden kann.
Erwerbstätige in 29 europäischen Ländern blicken auf die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in ihrem Land höchst unterschiedlich, arbeiten die Studienautor*innen heraus. Dabei werden umfangreiche Gerechtigkeitsdefizite deutlich. Die Untersuchung legt den European Social Survey (2018/19) zugrunde und ordnet die Befragten vier Profilen zu:
„Die Sozialpolitik in ganz Europa ist gefragt, die ungerecht empfundenen Unterschiede in Einkommen und Vermögen anzugehen“, so Studienautorin Adriaans. Die Politik tue gut daran, die jeweils im eigenen Land vorherrschenden Profile mittels entsprechender Sozialpolitik zu berücksichtigen. So weise eine Mehrheit von Kritiker*innen etwa auf eine erhebliche Gerechtigkeitslücke im Land hin. Umverteilungsmaßnahmen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen könnten deren Wahrnehmung positiv beeinflussen, schlagen die Autor*innen vor. In einem Land mit signifikantem Aufkommen von Altruist*innen und Benachteiligten hingegen wären zielgenauere Maßnahmen wie ein verbesserter Arbeitsschutz im Niedriglohnbereich oder ein höherer Mindestlohn sinnvoller.
1. Studie: Sandra Bohmann / Matteo Targa, Frauen sind für Diskriminierung sensibler geworden
2. Studie: Sandra Bohmann / Stefan Liebig, Knapp ein Drittel der Europäer*innen zweifelt an Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt
3. Studie: Cristóbal Moya / Jule Adriaans, Gerechtigkeitsprofile in Europa: Große Unterschiede bei der Bewertung von Ungleichheit
Alle Studien in DIW-Wochenbericht 7/2022, Seiten 87-116
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