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Wie unser irrationales Verhältnis zum Geld die Gesellschaft spaltet
Piper Verlag, Berlin 2022, 22,- Euro
Marcel Fratzscher ist einer der einflussreichsten Ökonomen des Landes. Seit zwanzig Jahren forscht er zum Thema Geld und Finanzpolitik. Über zehn Jahre arbeitete der Wirtschaftsprofessor für die Europäische Zentralbank (EZB). Seit 2013 ist Marcel Fratzscher Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Wenn der DIW-Chef spricht, hören Politiker und Banker zu. In „Geld oder Leben“ fordert Marcel Fratzscher einen anderen Umgang mit Geld. Seine Sorge: „Unser irrationales Verhältnis zum Geld spaltet sonst die Gesellschaft."
Der Buchtitel „Geld oder Leben“ kommt musikaffinen Menschen möglicherweise bekannt vor. Die Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV) – bekannt für Blödelsongs –gehört unumstritten zu den Bands mit dem besten Wortwitz des deutschen Sprachraumes. 1985 feierte EAV mit dem Album „Ba-Ba-Banküberfall“ ihren Durchbruch. Das ist zwar ziemlich lange her. Aber in dem zeitlosen, beinah weitsichtigen Lied „Geld oder Leben“ singen sie genau über das, was den Top-Ökonomen Marcel Fratzscher heute umtreibt: „Es sagt das Sprichwort: „Spare, spare, denn dann hast du in der Not!“ Der eine spart, kriegt graue Haare, der and're erbt nach seinem Tod.“
Die Deutschen gelten nicht nur als Weltmeister im Sparen, sondern haben zudem auch noch ein durchaus kritisches Verhältnis zum Thema Schulden. Hinzu kommt, dass sie überraschend ängstlich sind, was die Themen Anlage und Altersvorsorge betrifft. Dieser Dreiklang ist für Marcel Fratzscher keine gute Mischung: „Viele Menschen haben so viel Angst um ihr Erspartes, dass sie falsche Sparentscheidungen treffen und so einen Teil ihres Vermögens verlieren“, schreibt der Wirtschaftsprofessor für Makroökonomie.
Die Tradition der deutschen Sparerinnen und Sparer hat für den Autor eine lange Geschichte. Schon im 18. und 19. sowie im 20. Jahrhundert habe der Staat moralisch überhöht dafür geworben zu sparen. Es wurde manipuliert nach dem Motto: Spare in guten Zeiten, dann hast Du in der Not. Selbst Kinder wurden am Weltspartag animiert, ihre Spardosen zu Banken und Sparkassen zu bringen. Für den Ökonomen gab es immer wieder auch eine starke Politisierung des Sparens, letztendlich, um auch um mit Kriegsanleihen Kriege auf Kosten der Bevölkerung zu finanzieren. „Hinzu kommen zwei große Geldentwertungen im 20. Jahrhundert sowie eine Phase der Deflation, die eine wichtige Rolle beim Aufstieg der Nazis spielte“, schreibt Marcel Fratzscher. Immer wieder mahnt der Ökonom, es sei wichtig, sich zu fragen: Wofür spare ich? Und wofür mache ich Schulden?
Sparen gilt als erstrebenswert, während allein das Wort Schulden negativ behaftet, weil es von dem Begriff Schuld kommt. „Wer möchte schon gerne in der Schuld anderer stehen und abhängig sein“, sagt der Ökonom in Deutschlandfunk Kultur. „Sparen bedeutet, dass man heute auf Wohlstand verzichtet, damit es einem in der Zukunft besser geht.“ Auch für ihn selbst klinge es nicht gut, wenn jemand sage, er habe Schulden.
Schulden sind für Marcel Fratzscher nicht per se etwas Schlechtes oder Böses. Genauswenig sei Sparen grundsätzlich nur etwas Gutes. Aber das sitzt seiner Meinung nach ganz tief in vielen Menschen drin. Jeder möchte, selbst im Privaten, lieber die sogenannte schwarze Null haben, also liquide sein und keine Schulden aufnehmen. „Mit viel Sexismus wird gern von den Tugenden der schwäbischen Hausfrau gesprochen“, schreibt der Autor, „die niemals mehr ausgibt, als sie einnimmt, die Geld auf die hohe Kante legt und jeden Cent zweimal umdreht.“ Die viel spannenderen Fragen seien doch: Was mache ich mit dem Ersparten? Wofür nehme ich einen Kredit auf? Lohnt sich das?
„Für viele ist Geld und Moral eng miteinander verbunden, und ein tugendhaftes Leben gilt als eines, das von Bescheidenheit geprägt ist“, schreibt der DIW-Präsident. In Vorhaben wie die eigene Bildung, die Ausbildung der Kinder oder in das Eigenheim zu investieren ist für Marcel Fratzscher zumeist sinnvoller, als Schulden zu verteufeln. „Investitionen in uns selbst, in unsere Kinder, in den Klimaschutz, in Sicherheit, also letztendlich in die Zukunft nutzen auch anderen. Das seien eigentlich gute Schulden.“
Anstatt das Ersparte auf der Bank liegen zu lassen und sich über Negativzinsen zu ärgern, werden beim Hausbau Unternehmen beschäftigt und Arbeitsplätze gesichert. Gute Bildung führt außerdem zu einem produktiveren Leben. Und so wird für den Autor unser Wohlstand gesichert. Oder wie es EAV in dem Lied „Geld oder Leben“ ausdrückt: „Drum: Schaffe, schaffe, Häusle baue! Butterbrot statt Schnitzel kaue! Denn wer nicht den Pfennig ehrt, der wird nie ein Dagobert!“
Wer konventionell spart mit Sparbüchern oder Festgeldkonten anstatt beispielsweise Aktien oder Immobilien zu kaufen, handelt für den Autor sogar egoistisch und trägt letztendlich eine Mitschuld an den aktuellen Negativzinsen. „In kaum einem anderen Land liegt ein so großer Anteil des Ersparten in Form von Spareinlagen auf Bankkonten, die seit Jahren keine Zinsen abwerfen.“ Sparen und Schulden sind für Marcel Fratzscher im Grunde zwei Seiten derselben Medaille. Geld auf die hohe Kante legen klappt nur, wenn auf der anderen Seite jemand bereit ist, das Ersparte als Kredit aufzunehmen. Wenn alle möglichst viel sparen wollen, werden die Zinsen niedrig. „Dass alle sparen, ist logischerweise nicht möglich“, schreibt der Autor.
In Deutschland wird nicht nur extrem viel und schlecht gespart, sondern es gibt, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, eine ungewöhnlich niedrige Immobilienquote. Weniger als jeder zweite Deutsche hat ein Eigenheim, stellt Marcel Fratzscher fest. „Ein Eigenheim sichert gegen Inflation und steigende Mietpreise ab und ist eine gute Altersvorsorge“, so Marcel Fratzscher im SWR. Ein dritter Punkt in „Geld oder Leben“: Es gibt seiner Meinung nach kaum ein Land, wo Ersparnisse und Vermögen so ungleich verteilt sind. „Fast vierzig Prozent der Deutschen haben praktisch kein Erspartes.“
Zu Recht fordert Marcel Fratzscher eine bessere finanzielle Bildung, eine Umgestaltung der Sozialsysteme und des Arbeitsmarktes. „Kaum ein Land der Welt besteuert Arbeit stärker und Vermögen geringer“, schreibt DIW-Chef Fratzscher. Deutschland ist ein Hochsteuerland, was Arbeit betrifft, was es schwer mache, Vermögen aufzubauen. Was den Ökonomen spürbar ärgert: Vermögen wird nicht nur gering besteuert. Hinzu kommt, über die Hälfte des Vermögens wurden geerbt. „Große Erbschaften werden ebenfalls kaum besteuert“, so der Ökonom im SWR. Das Steuersystem eines Landes spiegelt für ihn immer auch die grundlegende Moralvorstellung der Gesellschaft wider. Der Autor fragt: „Was sagt das über unsere Gesellschaft?“ Oder wie es die österreichische Pop-Band EAV ausdrückt: „Es beherrscht der Obolus, seit jeher unsern Globulus.“ Mit anderen Worten: „Der Planet sich primär um das eine dreht!“
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine gibt es auch beim staatlichen Sparen eine Zeitenwende. Die entscheidende Frage lautet auch hier: Wie viel Schulden kann und will sich Deutschland in Zukunft noch leisten? Ein Risiko geht vor allem von der Teuerungsrate aus, die sich in den Jahren der Corona-Pandemie und davor für Marcel Fratzscher noch einigermaßen in Schach halten ließ. Inzwischen hält der DIW-Chef in der Süddeutschen Zeitung „Inflationsraten von bis zu zehn Prozent infolge des Kriegs für realistisch“. Die Zeit des billigen Geldes und der Nullzinspolitik neige sich dem Ende zu. War es in der Corona-Pandemie für den Staat günstig, Kredite aufzunehmen, werde das nun teurer.
Vermögen und Erbschaften höher zu besteuern fordert Marcel Fratzscher in „Geld oder Leben“. Bisher bringen vermögensbezogene Steuern etwa ein Prozent der Wirtschaftsleistung. Er wolle keine Neiddebatte gegen Erben oder Vermögende anzetteln, sondern fordert stattdessen ein Art „Lebenschancenerbe“. Gemeint ist: Wer in den Beruf startet, eine Familie gründen oder selbstbestimmt leben will, dem sei 30.000 Euro als Startkapital zu geben, beispielsweise finanziert über die Erbschaftsteuer. „Wieso sollte nicht jeder junge Mensch dieses Glück haben, eine Startchance bekommen?“ Sein größter Kritikpunkt: Die Chancen sind ungleich verteilt. Gemeint ist: Aus welchem Elternhaus man kommt, wie man gefördert wird – die Chancen hängen vom Umfeld ab: „Das wird einer Demokratie und sozialen Marktwirtschaft nicht gerecht.“
Lebenschancenerbe als Startchance für jeden, das hätte der Pop-Band EAV gefallen: „Es ist vom Volksmund eine Linke, dass das Geld gar übel stinke. Wahr ist vielmehr: Ohne Zaster beißt der Mensch ins Straßenpflaster.“
Marcel Fratzscher beleuchtet in „Geld oder Leben“ die Hintergründe der Vorstellungen vom guten Sparen und den bösen Schulden, dabei zettelt er keine Gerechtigkeitsdebatte an. Der Autor fragt vielmehr danach, was schafft Lebenszufriedenheit, Sicherheit und Chancengleichheit? Zum anderen geht es dem DIW-Chef auch um die Ungleichheit von Vermögen und von Erspartem, die einen Keil zwischen die Menschen treibt.
Der Top-Ökonom zeigt gut lesbar auf, „wie unser irrationales Verhältnis zum Geld die Gesellschaft spaltet“. Dass es ökonomisch zum Beispiel wenig sinnvoll ist, der arbeitenden Bevölkerung einen großen Teil des Arbeitseinkommens wegzunehmen, sodass Investitionen in die Zukunft und Aufbau von Vermögen kaum möglich sind. Wohlhabende oder Erben sollten sich dagegen stärker an den Gemeinschaftsaufgaben beteiligen. Nach Meinung des Autors sei das ökonomisch effizient, denn wenn das Steuermodell so umgestaltet werde, würde ein wohlhabenderes Land für alle entstehen.
Weiterführende Links:
www.zeit.de/serie/fratzschers-verteilungsfragen
www.deutschlandfunkkultur.de/geld-sparen-fratzscher-100.html
www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirtschaftskrise-inflation-ueberschuldung-1.5545744
alle abgerufen am 04.04.2022
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