Memorial Deutschland

Memorial Deutschland ist der deutsche Zweig der internationalen Menschenrechtsorganisation Memorial International, die 1989 als Bürgerrechtsbewegung in der früheren Sowjetunion entstand und mittlerweile 70 nationale und regionale Organisationen in neun Ländern umfasst.

SozialBank
Kurz und komplett
Über die Organisation

Memorial Deutschland ist der deutsche Zweig von Memorial International, einer internationalen Menschenrechtsorganisation, die etwa 70 nationale und regionale Organisationen in neun Ländern (Russland, Ukraine, Belarus, Kasachstan, Lettland, Deutschland, Italien, Frankreich und Tschechien) umfasst. Die Gesellschaft entstand während der Perestroika-Zeit als Bürgerrechtsbewegung in der früheren Sowjetunion. Ihr Ziel ist es, die Auswirkungen der Gewaltherrschaft des Stalinismus aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken. 

Der erste Vorsitzende der Gesellschaft war der Atomphysiker, Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Der deutsche Memorial-Ableger wurde 1993 in Berlin gegründet. Die Mitglieder sind in verschiedenen Städten Deutschlands aktiv, u.a. in München, Frankfurt, Dresden, Leipzig, Halle und Jena. 2022 wurde Memorial International zusammen mit der weißrussischen Organisation Wjasna, die sich für politische Gefangene einsetzt, und dem ukrainischen Center for Civil Liberties, das Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert, der Friedensnobelpreises verliehen.

Gründungsjahr

1993

Mitarbeitende

9

Mitglieder

ca. 150

Kunde der SozialBank seit

1993

Memorial International wurde vor kurzem nicht nur der Sonderpreis des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, sondern sogar der Friedensnobelpreis verliehen. Was bedeuten diese Auszeichnungen für Sie?

Wir freuen uns sehr über die Auszeichnung. Der Friedensnobelpreis bedeutet für uns Aufmerksamkeit. Wir sind sehr froh, dass er die Aufmerksamkeit auf Russland, Belarus, die Ukraine und die demokratischen Kräfte in diesen Ländern lenkt. Alle drei Länder stehen dafür, dass ein demokratischer Wandel erforderlich ist und es dort Kräfte gibt, die diesen mit unterschiedlichen Strategien vorantreiben. Unsere Hoffnung ist es, Aufmerksamkeit und Unterstützung in der Zukunft zu bekommen. Wir haben, auch von Memorial in Russland, viele Geflohene in Deutschland und in anderen Ländern, die jetzt Unterstützung brauchen.

Für den Friedensnobelpreis waren wir schon öfter nominiert  Die Nominierung und jetzt die Auszeichnung haben Hoffnung auf einen gewissen Schutz gebracht. In der Vergangenheit hat man bei anderen Friedensnobelpreisträgern jedoch gesehen, dass das nicht so ist. Im eigenen Land gibt es keinen Schutz. Das sieht man zum Beispiel an den Preisträgern vom letzten Jahr, den Journalisten Maria Ressa von den Philippinen und Dmitri Muratow aus Russland. Die Zeitung Nowaja gaseta, die Muratow geleitet hat, ist mit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine verboten worden und er selber wurde Ziel von Angriffen. In der Vergangenheit sind auch Journalistinnen und Menschenrechtsaktivisten ermordet worden.

Neben der Aufmerksamkeit und Unterstützung, die Sie sich erhoffen durch die Auszeichnung, welche Auswirkung hat der Preis für Sie als Verein?

Es ändert sich nicht viel an unserer Zusammenarbeit durch den Friedensnobelpreis. Memorial ist schon vorher ein internationales Netzwerk gewesen. Unser zentrales Anliegen ist die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus. Wir haben gemeinsame und eigene Projekte, jeder in seinem Land. Es gibt zum Beispiel eine Aktion, die wir jedes Jahr Ende Oktober gemeinsam in verschiedenen Ländern und Städten durchführen, die „Rückgabe der Namen“. Die Veranstaltung heißt so, weil die Namen der Opfer öffentlich meistens verschwiegen und damit die Erinnerung erschwert wurde. Wenn ein Opfer nicht einmal einen Namen oder ein Grab hat, dann ist das so, als hätte dieser Mensch nicht existiert. Bei der „Rückgabe der Namen“ werden die Namen öffentlich vorgelesen, mit Geburtsdatum, Todesdatum und dem Schicksal des Menschen. Das ist etwas, was uns verbindet. Die Aktion findet auch in Russland statt, da wo es möglich ist. Wir werden auch Namen ukrainischer Opfer lesen und das Gedenken an die Opfer des Stalinismus mit dem an die Opfer des heutigen Krieges verbinden.

Memorial erinnert an die Vergangenheit und stößt eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus an. Was bedeutet es, wenn Menschen die Geschichte ihres Landes nicht kennen?

In Deutschland ist der Nationalsozialismus in ganz vielen Projekten und lokalen Initiativen, Gedenkstätten und Denkmälern präsent. Das ist nach wie vor wichtig, ebenso, dass man immer wieder die junge Generation einbezieht, damit sich so etwas nicht wiederholt. Es ist vielleicht nicht ausreichend, aber es ist ein Versuch. In Russland ist das nicht passiert. Memorial hat es versucht, aber – wie Irina Lasarewna Scherbakowa, eine Repräsentantin des russischen Memorial, vor kurzem gesagt hat – unsere Stimmen waren zu schwach. Wir haben es in Russland nicht vermocht, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus wichtig ist und dass wir sie institutionalisieren müssen, um uns vor einem erneuten Abdriften in eine Diktatur, in Rechtlosigkeit und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Es gibt zwar ein staatliches Museum in Moskau, aber eigentlich ist es ein Manöver seitens der Regierung, um das Gedenken in die eigene Hand zu nehmen. Wer an den Verbrechen beteiligt war, welche Strukturen dies ermöglicht haben, das wird verschwiegen, damit wird sich nicht auseinandergesetzt. Stattdessen verschönert das Museum die Bedingungen für die Häftlinge, als hätten sie blütenweiße Bettwäsche und Tischdecken gehabt. Das ist eigentlich Geschichtsfälschung. Diese Strukturen bestehen als Erbe heute weiter fort. Dass in Russland darüber geschwiegen wird, ist das eigentliche Problem.

Aktuell sieht es in Belarus und Russland sehr schlecht für die Menschenrechte aus. Unabhängige Medien gibt es in Russland faktisch nicht mehr. Doch die Arbeit geht im Exil weiter. Mit als erstes nach Inkrafttreten des „Gesetz über ausländische Agenten“ von 2012 wurde Memorial als „ausländischer Agent“ eingestuft und somit unter staatliche Beobachtung gestellt. Ende Dezember 2021 wurde der internationale Dachverband von Memorial von Gerichten in Russland verboten. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Wir hatten gehofft, wir könnten das abwenden. Es wurde dagegen geklagt, doch die Klage ist abgewiesen worden. Parallel dazu haben wir, beziehungsweise vor allem die russischen Kollegen mit Unterstützung aus dem Ausland, das Archiv von Memorial gesichert, Dokumente digitalisiert und Exponate sichergestellt. Zunächst bestand die Hoffnung, dass wenigstens das Haus Eigentum von Memorial bleiben kann, doch das hat sich leider zerschlagen. Das Haus wurde jetzt enteignet. Das ist ein Riesenschlag gegen Memorial. Im Grunde genommen kann Memorial nicht mehr viel machen in Russland. Es gibt zwar noch regionale Verbände und Kolleginnen und Kollegen, die dortbleiben wollen, aber ein großer Teil ist inzwischen geflohen und arbeitet im Ausland.

Wir müssen jetzt Exilstrukturen aufbauen und versuchen, so viele der ehemaligen Mitarbeitenden zu halten wie möglich. Wenn nicht genug finanzielle Unterstützung da ist, kann es passieren, dass wir sie verlieren, weil sie sich um eine andere Arbeit kümmern müssen. Sie müssen auch schauen, wo sie einen gesicherten Aufenthalt erhalten. Im Moment sind sie zerstreut: Manche sind in Deutschland, manche in der Türkei, in Georgien oder in Kasachstan. Dieses Netzwerk beisammenzuhalten und Exilstrukturen zu gründen, um die Arbeit fortzusetzen, ist jetzt gerade die große Aufgabe.

Aufgrund der Mobilisierung und der aktuellen geopolitischen Lage haben einige Russen ihr Land verlassen. Ihr Verband wurde verboten. Im April 2022 hat die russische Regierung weitere zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen. Gibt es überhaupt noch eine regierungskritische Zivilgesellschaft in Russland?

Es gibt in Russland immer noch Menschen, die den Überzeugungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anhängen, die aber im Moment zum Schweigen verurteilt sind, um sich nicht persönlich zu gefährden. Schätzungen, wie groß dieser Anteil ist, bewegen sich zwischen 15 und 25 Prozent der Gesellschaft. Das hat viel mit Desinformation und Propaganda zu tun. Der Zugang zu unabhängigen Medien ist von Russland aus gesperrt. Man muss wissen, wie man diese Sperre durch einen VPN-Zugang umgehen kann, um sich jenseits der Propaganda zu informieren. DAs gelingt nur wenigen. Doch die institutionelle Basis für eine kritische Zivilgesellschaft ist zerschlagen, davon kann man ausgehen. Es gibt noch eine Zivilgesellschaft im sozialen Bereich, die geduldet wird, weil sie für den Staat nützlich ist oder keinen Schaden anrichtet. Auch diese soziale Zivilgesellschaft ist sehr vorsichtig geworden und äußert sich nicht politisch. Man kann nur hoffen, dass, diese Kräfte wieder zusammenfinden, sich bündeln und einen geschlossenen Block bilden, wenn es irgendwann einmal einen Wandel in Russland gibt. Sie sind da, wir arbeiten zusammen und versuchen sie zu stärken, so gut wir es können. Aber mehr können wir von Deutschland aus nicht tun.

 

© Memorial Deutschland e.V.

Schreiben Sie uns!