Reporter ohne Grenzen e.V. (RSF) dokumentiert Verstöße gegen die Presse- und Informationsfreiheit weltweit und setzt sich für den Schutz von Journalistinnen und Journalisten ein. Die Menschenrechtsorganisation kämpft online wie offline gegen Zensur, gegen den Einsatz sowie den Export von Überwachungstechnik und gegen restriktive Mediengesetze.
Ihr Nothilfereferat unterstützt verfolgte Journalistinnen und Journalisten und ihre Familien. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Hilfe in den Herkunftsländern der Betroffenen. Reporter ohne Grenzen ersetzt zerstörte oder beschlagnahmte Ausrüstung, übernimmt Anwaltskosten und hinterlegt Kautionen zur Haftverschonung. Nach Misshandlungen oder Anschlägen ermöglicht Reporter ohne Grenzen bedrohten Journalistinnen und Journalisten eine medizinische Behandlung. Außerdem spiegeln wir zensierte Webseiten und klären verfolgte Journalistinnen und Journalisten über Datenschutz auf.
Wenn es für Journalistinnen oder ihre Mitarbeitenden lebensgefährlich ist, in ihrem Heimatland zu bleiben, bemüht Reporter ohne Grenzen sich, ein sicheres Aufnahmeland zu finden.
1994
48
3.300
2006
Christian Mihr ist Journalist, Menschenrechtsaktivist und Experte für internationale Medienpolitik. Von 2012 bis 2024 war er als Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen tätig. Er engagiert sich unter anderem im Kuratorium des Deutschen Instituts für Menschenrechte und im Fachausschuss Kommunikation und Information der Deutschen UNESCO-Kommission. Ehemaliger Geschäftsführer
Homepage Reporter ohne Grenzen„Pressefreiheit immer wieder neu erkämpfen“
Am internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai hat Reporter ohne Grenzen die Rangliste der Pressefreiheit 2023 veröffentlicht. Die Liste vergleicht die Situation für Journalistinnen, Journalisten und Medien in 180 Staaten weltweit. Sie zeigt, wie sehr diese durch Kriege, Krisen und Konflikte, aber auch durch tätliche Angriffe in vermeintlich sicheren Ländern gefährdet sind. Im vergangenen Jahr war die Lage der Pressefreiheit so instabil war wie seit langem nicht. Die Pressefreiheit gilt als Indikator, wie es um die Demokratie bestellt ist, denn Sicherheit und Freiheit sind die Grundlage für eine unabhängige Berichterstattung. Über die Ergebnisse der weltweiten Befragung sprach die Sozialus-Redaktion mit Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen.
Herr Mihr, was sind die wichtigsten Ergebnisse der neuen Rangliste?
Die Lage der Pressefreiheit ist in 31 Ländern „sehr ernst“, in 42 „schwierig“, in 55 gibt es „erkennbare Probleme“, und in 52 ist die Lage „gut“ oder „zufriedenstellend“. Die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende sind also in rund 70 Prozent der Länder weltweit problematisch, ähnlich wie im Vorjahr. Drei Länder sind dieses Jahr in die schlechteste Kategorie abgerutscht: Tadschikistan, Indien und die Türkei. Deutschland hat sich einmal mehr ein wenig verschlechtert und ist von Platz 16 auf Platz 21 gefallen. Das hat einerseits mit Verschiebungen anderer Länder zu tun. Aber andererseits auch damit, dass wir in Deutschland im vergangenen Jahr eine Zunahme an gewalttätigen Übergriffen auf Journalistinnen und Journalisten erlebt haben.
Welche langfristigen Entwicklungen nehmen Sie wahr?
Ein großes Problem ist Straflosigkeit. Morde und Verbrechen an Journalistinnen und Journalisten werden in vielen Ländern dieser Welt nicht verfolgt. Mexiko ist ein krasses Beispiel mit fast 100 getöteten Journalistinnen und Journalisten im Jahr und das Land, in dem die meisten Medienschaffenden weltweit verfolgt werden. Außerdem sind in den letzten Jahren deutlich mehr Journalistinnen und Journalisten verhaftetet worden. Deswegen ist es so wichtig die Institutionen zu stärken. Auf UN-Ebene setzen wir uns für einen Sonderbeauftragten für Journalisten ein, hier in Deutschland für Verbesserungen im Bereich des Strafrechts.
Das zweite große Problem ist die Überwachung, denn sie untergräbt das Vertrauen der Quellen und erschwert die Arbeit der Medien. Reporter ohne Grenzen unterstützt Journalistinnen und Journalisten sowohl auf politischer Ebene als auch mit Gegenwehr. In unserem Nothilfebereich bieten technische Unterstützung an, um Überwachsungssoftware auf Computern und Handys zu erkennen und zu isolieren.
Wie hat sich Ihre Arbeit durch den Krieg gegen die Ukraine verändert?
Grundsätzlich unterscheidet sich unsere Arbeit nicht dadurch. Aus Sicht der Arbeit von Medienschaffenden ist der Krieg in der Ukraine vergleichbar mit anderen Kriegen. Aber die Aufmerksamkeit ist größer. Viele Journalistinnen und Journailsten sind auf einmal Kriegsberichterstatter geworden. Wir haben vor Ort sehr schnell sehr viele von ihnen unterstützt, auch mit schusssicherer Ausrüstung zur Arbeit in Kriegsgebieten. In Lwiw und in Kiew haben wir mit unserer Partnerorganisation Zentren für Pressefreiheit errichtet. Zudem haben wir geholfen, Verbrechen gegenüber Journalisten vor Gericht zu bringen. Dass wir Verbrechen aus einem europäischen Land vor internationale Gerichte bringen würden, hätten wir uns vor ein paar Jahren nicht ausdenken können.
Wie erleben Sie die Lage in Russland?
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, die Pressefreiheit ist abgeschafft. Aber sie ist eingeschränkt zu einem Grad, den man noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Die meisten unabhängigen Redaktionen haben das Land verlassen. Aus dem Exil arbeiten viele Redaktionen mit Quellen aus Russland, teils auch noch mit Mitarbeitenden vor Ort zusammen, aber unter permanenter Überwachung und mit dem Risiko, selbst verhaftet zu werden. Im vergangenen Jahr haben wir gemeinsam mit der Schöpflin-Stiftung und der Rudolf Augstein Stiftung den JX-Fund für Journalismus im Exil gegründet, um genau in solchen Situationen zu unterstützen.
Durch den Krieg in der Ukraine und die Proteste im Iran sind andere Krisengebiete im vergangenen Jahr in den Hintergrund gedrängt worden. Wo sollten wir wieder genauer hinschauen?
Leider gibt es in vielen Ländern Krisen mit erheblichen Auswirkungen auf Journalistinnen und Journalisten. Ein dramatisches Beispiel ist Myanmar, wo die Presse seit dem Putsch der Generale vor zwei Jahren brutal unterdrückt wird und journalistisches Arbeiten kaum noch möglich ist. Ein anderes Beispiel, das man hier teilweise völlig unterschätzt, ist Vietnam. Das Land ist nicht umsonst auf Platz 178 unserer Liste. Vietnam ist eine brutale kommunistische Diktatur, die jegliche unabhängige Berichterstattung unterdrückt. Das Regime nimmt massiv Einfluss auf die Presse vor Ort und beeinflusst sie über den Nachrichtendienst auch massiv im Exil. Hier bräuchten wir einen Blickwechsel von Vietnam als Urlaubsland hin zu der Diktatur, die es ist. Mexiko ist zwar in den Medien präsent, weil immer wieder Journalistinnen und Journalisten ermordet werden. Aber daran dürfen wir uns nicht gewöhnen. Was dort passiert ist weiterhin eine Katstrophe für die Pressefreiheit. Ein weiteres Land, das oft nicht beachtet wird, ist Kongo. Auch hier erleben wir immer wieder Angriffe auf unabhängige Journalistinnen und Journalisten, die dort unter prekären Sicherheitsbedingungen arbeiten.
Angesichts krasser Einschränkungen in anderen Weltregionen erscheint die Pressefreiheit in Europa und gerade in Deutschland sehr gut. Gleichzeitig erfahren viele klassische Medien eine Vertrauenskrise, Teile der Bevölkerung nehmen sie als „Lügenpresse“ wahr. Wie ist es um die Pressefreiheit in Deutschland und Europa einerseits und die Unabhängigkeit sowie Vertrauenswürdigkeit der Medien andererseits bestellt?
Will man das Glas halbvoll oder halbleer betrachten? In den vergangenen vier Jahren ist das Medienvertrauen laut einiger Studien sogar gewachsen oder stabil geblieben. Rund 70 Prozent der Bevölkerung haben Vertrauen in die deutschen Medien, rund 30 Prozent haben dies nicht. Was wir aber beobachten, ist, dass die Gewalt gegenüber Journalisten stark ansteigt. Wir sehen hier also eine Radikalisierung oder zumindest eine stärkere Gewalttätigkeit innerhalb jener Gruppe, die kein Vertrauen in die Medien hat. Das hängt mit den Informationsblasen in sozialen Netzwerken und geschlossenen Plattformen zusammen. Deswegen ist es wichtig, sich politisch mit der Regulierung dieser Plattformen zu beschäftigen. Zugleich ist zu sagen, dass wir in vielen Demokratien ein ähnliche Vertrauensverteilung in die Medien beobachten. Vielleicht ist eine gesunde Portion Misstrauen auch ein Ausweis einer funktionierenden Demokratie, dass sie aufgrund ihrer Medienvielfalt auch Zweifel und mehr unterschiedliche Sichtweisen tolerieren können und tolerieren müssen.
Sie setzen sich stark gegen Zensur und Überwachung im Internet ein. Ihre Kampagnen machen auf das Thema aufmerksam und finden kreative Wege, die Zensur zu umgehen. Ihre Kampagnen „The Uncencored Playlist“ und „The Uncensored Library“ für Informationsfreiheit in Internet wurden u.a. beim Wettbewerb Sozialkampagne der SozialBank ausgezeichnet. Was haben die Kampagnen bewirkt und wie geht es weiter?
Unsere Kampagnen wirken sehr unterschiedlich. Im besten Fall führen sie zu einer Veränderung, in manchen Fällen auch nur zu einer stärkeren Sensibilisierung für das Thema. Bei „The Uncensored Playlist“ haben wir Schlupflöcher in den Regimerestriktionen genutzt, weil sie Musikplattformen wie Spotify nicht als Portale von kritischem Journalismus wahrgenommen haben. Über diese Plattformen haben wir verbotene Texte vertont als Popsongs in verschiedenen Sprachen zugänglich gemacht. Und da haben wir tatsächlich erstaunliche Downloadzahlen. In Vietnam ist ein Lied, in dem zensierter Text eingebracht wurde, in die Top 10 der Streaming-Charts gekommen. Ein ähnliches Prinzip haben wir mit „The Uncensored Library“ aufgegriffen. Hier haben wir das Computerspiel Minecraft genutzt, um zensierte Texte zu verbreiten und beispielsweise im Iran und in Saudi-Arabien starken Zugriff auf die dort enthaltenen Inhalte festgestellt.
Wir planen immer wieder neue Aktionen, um auf das Thema Internetzensur aufmerksam zu machen, zum Beispiel am 12. März, dem Welttag der Internetzensur. Was wir ganz praktisch tun, ist das Spiegeln von Websites, um die Zensur zu umgehen und kritische Inhalte zugänglich zu machen.
Seit über zehn Jahren kämpfen Sie mit Reporter ohne Grenzen für Pressefreiheit und Informationsfreiheit im Internet. Die Zeiten für Journalist*innen werden immer schwieriger. Führen Sie einen Kampf gegen Windmühlen?
Gegen Windmühlen nicht. Aber mit Sisyphos ist es manchmal vielleicht vergleichbar. Es gibt immer Vor- und Rückschritte. Pressefreiheit ist nicht einfach so gegeben oder selbstverständlich. Man muss sie verteidigen und sie sich immer wieder neu erkämpfen. Es gibt schlechte Entwicklungen wie in Myanmar, aber auch positive Entwicklungen wie in Gambia, wo wir wirklich eine deutliche Verbesserung bei der Pressefreiheit erleben.
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