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Rund 3,5 Millionen Pflegebedürftige hierzulande werden zu Hause versorgt, informiert das Zahlenwerk des Statistischen Bundesamtes. Weit weniger bekannt ist, dass sich auch viele junge Menschen in der Pflege ihrer Großeltern, Eltern oder Geschwister engagieren. „Diese Teenager und jungen Erwachsenen helfen bei der Körperpflege, wechseln Verbände, gehen für pflegebedürftige Angehörige einkaufen oder putzen deren Wohnung“, beschreibt der DAK-Pflegereport 2021 ihren Einsatz. Die Studie unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Thomas Klie von der evangelischen Hochschule Freiburg rückt die „Young Carers“ in den Mittelpunkt und benennt Schlussfolgerungen für die Pflegeversorgung.
„Die Bevölkerungsbefragung zeigt, dass es eine große Bereitschaft bei jungen Menschen gibt, Aufgaben der Pflege von Angehörigen zu übernehmen“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm. 1.310 repräsentativ ausgewählte junge Männer und Frauen zwischen 16 und 39 Jahren wurden befragt, rund ein Drittel (443 Personen) hatte aktuell oder in den vergangenen zehn Jahren Pflegearbeiten (20 %) oder pflegenahe Alltagshilfen (80 %) bei ihren Familienangehörigen verrichtet. Die Pflegetätigkeiten – meist bei Großeltern, gefolgt von den Eltern – sind mitunter sehr zeitintensiv: 35 Prozent der Young Carers sind mehrmals pro Woche pflegerisch aktiv, 40 Prozent jeden Tag. Zwei von drei jungen Menschen können sich vorstellen, Angehörige zu pflegen, von den Befragten mit Pflegeerfahrung würden das sogar 84 Prozent erneut tun.
Welche Haltung steht hinter der hohen Pflegebereitschaft? Eine moralische Verpflichtung dazu sehen weniger als die Hälfte der unter 40-Jährigen (41 %). Eine viel größere Rolle spielt die familiäre Verbundenheit: „Die Kinder und Enkelkinder übernehmen Verantwortung auch wenn es um Pflege geht und lassen ihre Eltern, Geschwister und Großeltern nicht allein, wenn sie sich mit ihnen eng verbunden fühlen“, beschreibt die Studie.
Dabei neigen die jungen Pflegenden nicht zur Beschönigung, berichten von positiven (83 %) und negativen Erfahrungen (73 %). So sagen die Befragten, dass ihr Verhältnis zu den Gepflegten noch enger geworden ist (43 %), dass man trotz der schwierigen Situation auch schöne Momente zusammen erlebt (43 %) und dass sie durch die Pflege erkannt haben, was wirklich im Leben zählt (24 %). Aber auch Zweifel und Frust sind den Young Carers nicht fremd: wegen der befürchteten Verschlechterung des Zustands des Pflegebedürftigen (42 %), wegen des Gefühls der Überforderung (24 %) und der Wahrnehmung, im Stich gelassen zu werden (20 %).
Die Pflege- und Hilfsbereitschaft junger Menschen entscheidet sich oft an der Vereinbarkeit mit alterstypischen Verpflichtungen und Entwicklungsphasen. „Die Rahmenbedingungen müssen stimmen, das ist ein zentraler Aspekt“, merkt Pflegewissenschaftler Klie an. Die Pflegebereitschaft schwindet, wenn Schule, Ausbildung oder Studium beeinträchtigt und Freundschaften, Familie oder Partnerschaft gefährdet sind. „Dann werden andere Lösungen, etwa das Pflegeheim oder eine Wohngruppe, als realistisch und auch als dem auf Pflege angewiesenen Menschen zumutbar angesehen.“
Young Carers laufen Gefahr, sich selbst zu überfordern. Nicht nur wegen der hohen Belastung, sondern auch, weil die Befragten kaum Hilfe ersuchen: Eine Mehrheit der Pflegenden (70 %) nimmt keinen ambulanten Pflegedienst in Anspruch, professionelle Schulung und Beratung spielen kaum eine Rolle. Als nachteilig bringt der Report auch das Unwissen über die Finanzierung der (Langzeit-) Pflege sowie unrealistische Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherung zum Vorschein.
Der breitangelegte Befund des DAK-Reports mündet in die „Agenda Jugend und Pflege“ – eine Positionsbestimmung zu einer akzeptanzbasierten generationenübergreifenden Pflegepolitik. Ziel ist, die junge Generation bei der Wahrnehmung ihrer Pflegeverantwortung durch Staat und Gesellschaft tatkräftig zu unterstützen. Zentrale Punkte:
Der zentrale Gedanke der Agenda gilt der Forcierung einer gesellschaftlichen Diskussion, die durch die Kommerzialisierung des Pflegesystems in den Hintergrund geraten ist: die Frage nach den Bedingungen eines guten Lebens, nach dem Wert von Pflege als sinn- und gemeinschaftsstiftender Aufgabe. Die Antworten werden kontrovers sein, sie dürften aber auch jungen Menschen helfen, eine Rolle in der Angehörigenpflege einzunehmen, die sie wirklich schultern können und wollen.
Pflegereport 2021. Junge Menschen und Pflege. Einstellungen und Erfahrungen nachkommender Generationen. Andreas Storm, Vorsitzender des Vorstands der DAK-Gesundheit (Hg.), Thomas Klie, Evangelische Hochschule Freiburg (Autor),
Hamburg, Freiburg, 2021, 195 Seiten
Download
Angebote der DAK-Gesundheit speziell für junge Pflegende online unter:
www.dak.de/junge-pflegende
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