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Braucht das Land einen muslimischen Wohlfahrtsverband – zusätzlich zu Caritas, Diakonie & Co.? Die anhaltende Diskussion hat bereits Fakten geschaffen: Das Bundesfamilienministerium setzte 2017 mit dem Projekt „Empowerment zur Wohlfahrtspflege mit den Verbänden der Deutschen Islamkonferenz“ ein wichtiges Signal.* Zusammen mit der Freien Wohlfahrtspflege und staatlichen Einrichtungen treibt es die Professionalisierung einer religions- und kultursensiblen Wohlfahrtsarbeit voran. Am 9. Juni 2022 findet in Frankfurt am Main die Abschlusstagung statt. Welche Veränderungen auf das deutsche Wohlfahrtssystem zukommen, wollte die Trendinfo-Redaktion von Anke Strube wissen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) in Frankfurt am Main begleitet das Projekt.
Anke Strube: Viele der hierzulande rund 5,5 Millionen Muslime und Musliminnen haben – ebenso wie Angehörige anderer Religionen – einen Bedarf an religions- und kultursensiblen sozialen Angeboten. Gleichzeitig sind diese Menschen in der Inanspruchnahme und Erbringung bestehender Wohlfahrtsangebote unterrepräsentiert. Damit gesellschaftliche Vielfalt und unterschiedliche Interessen im Wohlfahrtssystem vertreten werden können, bedarf es der Trägervielfalt. Darüber hinaus wird dem gesetzlich verankerten Wunsch- und Wahlrecht der Nutzer*innen, über Angebote und möglichst auch Träger mitzuentscheiden, Rechnung getragen.
Großer Handlungsbedarf besteht vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Altenhilfe, Seniorenarbeit und Arbeit mit behinderten Menschen.
Weil staatliche Integrationsangebote für Arbeitsmigrant*innen und ihre Angehörigen lange fehlten, wurden in der Vergangenheit vielfältige Selbsthilfestrukturen geschaffen. So sind die dabei entstandenen Moscheevereine oft über das religiöse Leben hinaus wichtige gemeinschaftsstiftende Anlaufstellen und halten soziale Angebote vor. Letztere müssen qualifiziert und professionalisiert werden, da sie den Bedarf längst nicht abdecken und den komplexen Herausforderungen Sozialer Arbeit in der Migrationsgesellschaft nicht gerecht werden.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege geben den Maßstab vor: So wie sie über ihre konkrete soziale Arbeit hinaus wichtige Ansprechpartner für die Politik sind, sollte auch die Beteiligung der muslimischen Wohlfahrt strukturelle Teilhabe ermöglichen. Gefragt ist nicht nur ein Mitmachen, sondern auch ein Mitgestalten.
Das Thema erfährt erst seit einigen Jahren politische Aufmerksamkeit, seit der Deutschen Islam Konferenz 2014-2017. Deutschland hat sich lange nicht als Einwanderungsland verstanden. Hinzu kommt, dass der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung oft noch als eine Ausländerreligion gesehen wird. Es bestehen also noch viele Vorbehalte und Herausforderungen sowie fachliche und organisationale Fragen. Seitens der muslimischen Träger gilt es, religiöse und soziale Dienste organisatorisch zu trennen, wie es der Logik des Wohlfahrtssystems entspricht.
Tatsächlich geht es darum, das Verhältnis auszuloten und trotz unterschiedlicher Ressourcen zu einer gleichberechtigten Kooperation zu kommen. Voraussetzung ist die Anerkennung der mittlerweile entwickelten Kompetenzen der neuen Partner*innen. Längerfristig sind öffentliche und freie Träger sowie politische Entscheidungsträger*innen gefordert, muslimische Träger an der Mitgestaltung der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zu beteiligen und damit Zugänge zu den benötigten Ressourcen zu ermöglichen – den Kuchen also gemeinsam neu zu verteilen.
Letztendlich verdeutlicht der Diskurs um muslimische Wohlfahrt blinde Flecken im Wohlfahrtssystem und spricht zentrale Fragen der Gestaltung einer pluralen Gesellschaft an. So etwa die Frage, ob das Wohlfahrtssystem in seiner jetzigen Form tatsächlich den Anforderungen an eine vielgestaltige Gesellschaft entspricht oder ob es weiterentwickelt werden sollte. Damit verbunden ist die Frage, ob ein siebter Spitzenverband alleine zielführend ist oder ob nicht ergänzend weitere Möglichkeiten der gleichberechtigten Teilhabe und Repräsentation entwickelt werden sollten.
Durch das oben genannte Empowermentprojekt konnten zentrale Entwicklungen angestoßen werden. Das betrifft vor allem die Kooperation unterschiedlicher muslimischer Verbände auf fachlicher Ebene jenseits unterschiedlicher theologischer Richtungen. Als Erfolg kann auch die Erweiterung zentraler Netzwerke in der muslimischen Community und zusammen mit weiteren Akteuren gewertet werden.
Die Selbstorganisationsprozesse der muslimischen Verbände sollten fortgeführt und gefördert werden. Das Netzwerk im Empowermentprojekt ist unbedingt zu erweitern: Die muslimische Wohlfahrt wird vielfältiger, weshalb es längst nicht nur Moscheevereine und religiöse Verbände sind, die sich vor Ort einbringen. Noch manche gesellschaftliche Hürde tut sich auf, etwa antimuslimische Vorbehalte, Extremismusunterstellungen und die fehlende Anerkennung von Muslim*innen in Deutschland. Dennoch ist die soziokulturelle muslimische Landschaft in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Entsprechend sollten weitere Akteur*innen und gegebenenfalls auch säkulare Migrantenorganisationen einbezogen werden.
* Das Projekt befindet sich derzeit in der Auswertungsphase. Es kooperieren das Islamische Kompetenzzentrum für Wohlfahrt (IKW) e.V. und drei weitere Verbände (AMJ, AABF, TGD). Das IKW ist ein Zusammenschluss von sieben der zehn damaligen DIK-Verbände (DITIB, IGBD, IGS, IRG, VIKZ, ZMD, ZRMD); mittlerweile ist noch ein achter Verband hinzugekommen. Zwei weitere Organisationen aus der muslimischen Wohlfahrt beteiligen sich in den letzten beiden Projektjahren ebenfalls (SmF und WMGD).
Im Rahmen des Empowerment-Projekts findet die Abschlusstagung zum Thema „Wohlfahrtspflege in der pluralen Gesellschaft“am 9. Juni 2022 in Frankfurt am Main statt.
Weitere Informationen zum Projekt: www.empowerment-wohlfahrtspflege.de
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