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Penguin Verlag 2022, 336 Seiten, 22 Euro
Seit 2012 erklärt die Autorin und Antidiskriminierungs-Expertin in Workshops und Vorträgen, wie und wo sich Rassismus in unserer Gesellschaft versteckt. In dieser Funktion leitet sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz Fortbildungen, tritt als Speakerin auf, berät Teams, Organisationen und Unternehmen. Im März 2017 erschien ihr Handbuch „exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen“ und wurde zum Bestseller. Seitdem macht sie in Kindergärten, Schulen, Unternehmen, Kultureinrichtungen oder Adoptionsagenturen deutlich, welche Folgen ein unkritischer Umgang mit dem Thema haben kann. „Und jetzt Du. Rassismuskritisch leben“ heißt das zweite Buch von Tupoka Ogette. Unsere Autorin Maicke Mackerodt hat mit Tupoka Ogette per Zoom darüber gesprochen, wie sich rassismuskritisches Verhalten unter Freunden, in Familie, Schule, Freizeit und Beruf umsetzen lässt.
Mit Anfang zwanzig hatte Tupoka Ogette das, was sie als ihr „Schwarzes Coming-out“ oder „ihre Politisierung“ bezeichnet. Für ihr Studium war sie in ihre Geburtsstadt Leipzig zurückgekehrt und wurde völlig unerwartet zu einem Treffen Afrodeutscher Menschen eingeladen. „Das war der Start, dass ich begann, mich mit anderen Schwarzen Menschen auszutauschen und für meine Erfahrungen Worte zu finden“, erinnert sich die Autorin. Für „Und jetzt Du“ habe sie sich bewusst entschlossen, anekdotischer zu arbeiten, sagt Tupoka Ogette im Video-Interview, „weil ich glaube, dass das diesen manchmal so abstrakt wirkenden Diskurs mehr in den Alltag bringt“.
Schon als Kind habe Tupoka Ogette bemerkt, dass ihre hellbraune Hautfarbe ein Auslöser für allerlei Konflikte war. „Das ist natürlich auch für mich beim Schreiben ein Prozess gewesen, alte Erinnerungen rauszukramen und mit meiner Familie zu sprechen, das sind ja viele Kindheitserinnerungen“. Für die Autorin hieß das, nochmal mit ihrer Mutter „ins Gespräch zu gehen“, wie sie es nennt. Um zu erforschen, weshalb sie ihr als Fünfjährige ihrer Mutter nicht erzählt hat, dass eine Zahnärztin „solche wie sie als Jammerlappen“ bezeichnet hat. „Das war schon fast eine Art therapeutischer Prozess, dass alles noch mal durchzuarbeiten und so früh schmerzlich zu erfahren, was Rassismus bedeutet, ohne es so benennen zu können.“
Tupoka Ogette, 1980 in Leipzig als Tochter eines tansanischen Werkstudenten und einer deutschen Mathematikstudentin geboren, wanderte mit acht Jahren – kurz vor der Wende –mit ihrer Mutter nach Westberlin aus. Ihr Vater war in seiner Heimat zurückgekehrt. Sie lebt inzwischen gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Bildhauer Stephen Lawson, und zwei Söhnen in Berlin. Anhand vieler konkreter Vorfälle aus ihrem Alltag macht sie heute einfühlsam auf das Thema Rassismus aufmerksam.
„Ich habe einen erwachsenen Sohn und ein Sohn, der elf Jahre alt ist, und viele unserer Gespräche sind auf eine Art in dieses Buch mit eingeflossen. Mein Ansatz ist immer, dieses große Komplexe möglichst konkret und auch kurzweilig zu formulieren“, erzählt Tupoka Ogette.
Rassismuskritik ist für Tupoka Ogette kein neumodischer Trend oder irgendeine Phase. Es ist vielmehr „ein Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit, der seit vielen Jahrhunderten gekämpft wird, ein Kampf gegen die weiße Vorherrschaft und die Unterdrückung von schwarzen Menschen, indigenen Menschen und People of color“, schreibt die Autorin. Die Geburtsstunde der Diskriminierung, also des Rassismus, ist für Tupoka Ogette die Zeit des transatlantischen Sklavenhandels, als Menschen millionenfach versklavt und ausgebeutet wurden. Heute versteht die Expertin unter Rassismus viele verschiedene Bewegungen, die für sie nicht erst mit dem Mord an George Floyd 2020 in das öffentliche Bewusstsein rückten.
„Dass wir alle diese schrecklichen neun Minuten anschauen konnten wie George Floyd ermordet wurde, das hat einfach wahnsinnig viele Menschen ergriffen, die sonst das Privileg oder die Möglichkeit haben, da nicht so hinzugucken.“ Weil sie sich seit zehn Jahren mit rassismuskritischer Bildung beschäftigt, war das für Tupoka Ogette keine Überraschung. „Ich kenne diese Fälle, habe zwei schwarze Söhne, die ich auf diese Welt vorbereiten muss. Aber dieser gemeinsame kollektive Aufschrei war schon etwas sehr Besonderes und auch durchaus Gutes. Die Frage ist: Wie nachhaltig ist das?“
Die Antirassismus-Trainerin ist nach dem Mord an George Floyd auch zu den Demonstrationen in Berlin auf die Straße gegangen, erzählt sie, und war völlig überrascht, als sie viele Schilder sah, auf denen stand: Bye, bye Happyland. „Das ist ein Slogan aus meinem Buch. Das hat mich schon im positiven Sinne sehr angefasst und mir auch Kraft gegeben in diesem Moment“, sagt Tupoka Ogette.
Als „Happyland“ bezeichnet die Autorin den Bewusstseinszustand, in dem weiße Menschen leben, wenn sie fest davon überzeugt sich, auf gar keinen Fall Rassisten zu sein. Der Zustand, bevor sie anfangen, sich bewusst mit Rassismus auseinanderzusetzen. Denn rassistisch, das sind immer nur die anderen. „Wir alle lernen, Rassismus ist schlecht, Rassismus ist böse. Rassismus gibt es nur in der rechten Ecke. Und solange ich Rassismus schlecht finde, kann ich selber nicht Teil des Problems sein“, das erlebt Tupoka Ogette seit vielen Jahren. Und es gebe heftige Abwehrmechanismen, sich einzugestehen, vielleicht doch rassistisch zu sein. Wut, Relativieren, Ignorieren oder auch Defensiv reagieren, wenn man auf die eigenen Rassismen zurückgeworfen wird, das sind für die Bürgerrechtlerin alles Abwehrstrategie. „Das ist eine kollektive Erfahrung“, weiß Tupoka Ogette. In ihren Workshops würde sie dann immer sagen: Wisst ihr, es geht uns allen so!
„Ja, ich bin in eine Welt geboren, da war Rassismus schon da, bevor ich da war, dafür kann ich nichts“, sagt die Autorin. Dafür müsse man sich auch nicht schuldig fühlen. „Aber das eine Verantwortung, sich mit eigenen sozialisierten Denkstrukturen und Denkmustern, mit der Sprache in Kinder- und Schulbüchern, kritisch auseinanderzusetzen, wenn ich diesen Weg gehen möchte.“
Ihr Leben unter weißen Menschen als Afrodeutsche, wie Tupoka Ogette sich selbst nennt, hat Spuren hinterlassen. Die Bürgerrechtlerin zeigt glaubhaft den engen Zusammenhang zwischen Privilegien und Diskriminierung auf, als zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Sie beleuchtet mit vielen Beispielen, die manchmal kaum zu glauben sind, Rassismus im Gesundheitssystem, in der Filmindustrie, in der Theater- und Musikbranche, aber auch in Kindergärten oder in Schulen.
Für die Autorin ist es ja nicht so, dass Rassismus weiße Menschen nicht betrifft. Im Gegenteil. Ihrer Meinung nach „brauchen wir weiße Menschen und die gemeinsame Auseinandersetzung für uns alle Menschen in dieser Gesellschaft, damit wir Rassismus begegnen können“. Mit ihrem Buch möchte sie Impulse und Anregungen geben, vielleicht Fragen stellen und so zu einem Perspektivwechsel einladen. „Die Wahrheit ist, dass wir alle, und da nehme ich mich gar nicht aus, uns ein Leben lang auf die eine oder andere Art damit beschäftigen werden müssen, wenn wir tatsächlich an einer rassismuskritischen Gesellschaft arbeiten wollen“, so die zweifache Mutter.
Sprechen lernen über Rassismus ist wie ein Muskel, den wir als Gesellschaft trainieren müssen, schreibt Tupoka Ogette. „Wir haben immer das Gefühl, hier bin ich und Sprache ist irgendwo da drüben und so was ganz Abstraktes. Aber ich glaube, dass Sprache Wirklichkeit schafft. Also nicht nur nach außen, sondern auch nach innen.“ Sie würde sich freuen, wenn Menschen ansetzen mit der Frage: Was möchte ich sagen, wofür kann ich Verantwortung übernehmen? Anstatt immer wieder zu fragen: Was darf ich denn überhaupt noch sagen? Das ist für die Trainerin eine wichtige Schnittstelle. Und dann die weiteren Fragen: „Welche Privilegien habe ich? Welche Dinge kann ich gar nicht erkennen, weil ich sie nicht erlebe und weil die zum Perspektivwechsel auf jeden Fall dazugehören.“
„Und jetzt Du“ ist ein kluges interaktives Mitmachbuch, das Wege aufzeigt, wie man rassismuskritisch denken lernen kann. Quasi ein Workshop zum Lesen. Dabei will die Autorin weder ein schlechtes Gewissen machen, noch etwas verbieten. Informativ, anrührend und oft sehr persönlich lädt Tupoka Ogette zum einen zu einer historischen Zeitreise ein. Zum anderen spricht sie die Leserinnen und Leser direkt in der Du-Form an. Das zeigt Wirkung, vor allem bei unbequemen Wahrheiten.
Die Autorin versucht dafür zu sensibilisieren, dass mit Worten Denkmuster geprägt werden. Und: Dass allein die Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache den Blick weiten kann für tief verborgenen Rassismus in uns selbst.
Weiterführende Links
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Alle abgerufen am 04.05.2022
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Tupoka Ogette: Und jetzt Du. Rassismuskritisch leben
Susanne Bauer
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