AWO Bundesverband

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ist einer der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Gemäß ihrer Werte Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Solidarität setzt sie sich bereits seit 1919 für einen guten Sozialstaat und eine lebendige Demokratie ein.

© Marlene Charlotte Limburg / AWO-Kundgebung „Die Letzte macht das Licht aus - Stoppt den Sparhaushalt!“ gegen die Kürzungspläne der Ampel-Regierung für den Bundeshaushalt 2024
Kurz und komplett
Über die Organisation

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ist einer der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Gemäß ihrer Werte Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Solidarität setzt sie sich bereits seit 1919 für einen guten Sozialstaat und eine lebendige Demokratie ein. Neben professionellen sozialen Diensten und Einrichtungen von der Kita bis zur Pflege lebt die AWO vom ehrenamtlichen Engagement ihrer rund 270.000 Mitglieder. Sie hat bundesweit 250.700 hauptamtliche und 70.800 ehrenamtliche Mitarbeitende.

Gründungsjahr

1919

Zahl der Mitarbeitenden

bundesweit 250.700 hauptamtliche und 70.800 ehrenamtliche Mitarbeitende

Zahl der Mitglieder

270.000 Mitglieder

Claudia Mandrysch, Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbandes
„Es braucht eine mutige und entschlossene Bundesregierung.“

Die Zukunft der sozialen Sicherheit 

Es zählt zu den großen Aufgaben unserer Zeit, die soziale Infrastruktur und den Klimaschutz nachhaltig zu finanzieren und den Nachwuchs in sozialen Berufen zu sichern. Claudia Mandrysch, Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbandes, spricht im Interview über die drängendsten Herausforderungen für die Wohlfahrtspflege, die Anforderungen an die neue Bundesregierung und ihre Erfahrungen als Trainerin und Coach.

Frau Mandrysch, welche Herausforderungen sehen Sie aktuell in der Wohlfahrtspflege und wie geht die AWO damit um? 

Eine der größten Problematiken ist der Fachkräftemangel. Besonders in der Pflege, der Sozialarbeit und Betreuung fehlen qualifizierte Fachkräfte, was zu einer hohen Arbeitsbelastung führt und die Qualität der Versorgung beeinträchtigen kann. Gleichzeitig verstärkt der demografische Wandel diese Situation. Ein weiteres Hindernis stellt die Bürokratie dar: Komplexe gesetzliche Vorgaben und umfangreiche Dokumentationspflichten binden wertvolle Ressourcen, die eigentlich für die direkte Arbeit genutzt werden und dem Fachkräftemangel entgegenwirken könnten. Die Umstellung auf digitale Prozesse kann Arbeitsabläufe effizienter gestalten und den Zugang zu Hilfsangeboten erleichtern. Allerdings müssen Organisationen dafür ihre technischen und organisatorischen Strukturen anpassen. 

Hinzu kommt die finanzielle Unsicherheit vieler Wohlfahrtsorganisationen. Sie sind auf öffentliche Förderungen angewiesen, die nicht immer ausreichend oder langfristig gesichert sind. Steigende Kosten für Energie, Mieten und Personal, aber auch steigende Eigenanteile verschärfen diese Situation zusätzlich. 

Und zuletzt stellt die Dekarbonisierung viele Träger der Wohlfahrtspflege vor große Probleme. Der gesetzliche Druck zur Reduzierung von CO2-Emissionen erfordert Investitionen in energieeffiziente Gebäude, erneuerbare Energien und nachhaltige Mobilitätskonzepte. Gerade ältere Einrichtungen müssen umfassend modernisiert werden, was mit hohen Kosten verbunden ist. Demgegenüber stehen Fördermittel oft nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung oder sind an komplizierte Antragsverfahren gebunden. 

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, setzt die AWO auf verschiedene Strategien. Wir fordern unter anderem den Ausbau von Ausbildungskapazitäten, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, und weitere Investitionen in die Digitalisierung, um Dokumentationsaufwände zu vereinfachen und Prozesse zu optimieren. Wir engagieren uns für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und vertreten den Ansatz der Quartiersarbeit, um Ressourcen zu bündeln und auch älteren Menschen einen selbstbestimmten Rahmen für Engagement und Teilhabe zu bieten. 

Im Bereich der Dekarbonisierung entwickeln wir zusammen mit Kooperationspartnern nachhaltige Konzepte, um ökologische Verantwortung mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Das ist umso wichtiger, als dass wir in volatilen Zeiten leben, in denen Ressourcenknappheit schon heute Verteilungskämpfe auslöst. 

Mit der Kampagne „AWO wählt Demokratie“ fordert die AWO eine starke Zivilgesellschaft, eine gerechte Verteilung von Wohlstand und eine umfassende Reform der sozialen Sicherungssysteme. Welche Prioritäten sollte die neue Bundesregierung in der Sozialpolitik setzen? 

Aus meiner Sicht muss die Priorität bei einem grundlegenden Umdenken liegen: Wir müssen den Sozialstaat und die ihn tragenden Strukturen im Kontext der Demokratiearbeit betrachten. Das soziale Versprechen, dass es gerecht zugeht in unserem Land, muss gehalten werden – denn es ist eine Bedingung für das Funktionieren der Demokratie. Daher muss die nächste Bundesregierung sowohl die soziale Sicherheit als auch die soziale Infrastruktur stärken und ausbauen – statt über ihren Rückbau zu reden. 

Der gesellschaftliche Zusammenhalt benötigt eine besondere Aufmerksamkeit: Die Bundesregierung sollte Maßnahmen ergreifen, um soziale Ungleichheit zu verringern, Teilhabechancen zu stärken und Diskriminierung entgegenzuwirken. Dabei ist es wichtig, kulturelle Vielfalt anzuerkennen und die interkulturelle Kompetenz in unserer Gesellschaft zu fördern. Die AWO fordert daher eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und sowohl kurzfristige Entlastungen als auch langfristige strukturelle Verbesserungen gewährleistet. Es braucht eine mutige und entschlossene Bundesregierung, die daran interessiert ist, Lösungen in einer komplexeren Welt gemeinschaftlich anzugehen. 

Die Dienste und Einrichtungen der Sozialen Arbeit benötigen mehr finanzielle Sicherheit. Wie kann die soziale Infrastruktur nachhaltig finanziert werden? 

Ganz pragmatisch, indem die öffentliche Hand langfristige Förderentscheidungen ausspricht und Mittel nicht mehr von Jahr zu Jahr vergibt. Zum anderen müssen die Kostenträger – sowohl Kassen als auch öffentliche Körperschaften – die Leistungen refinanzieren, die den tatsächlichen Bedarfen gerecht werden. Die Illusion, dass gemeinnützige Träger unbeschränkt aus Eigenmitteln das Ausfallen anderer Finanzierungsquellen ausgleichen könnten, muss enden. Diese Eigenmittel sind nur begrenzt bis gar nicht vorhanden, da die Träger im profitfreien Raum agieren. Hier sind gegebenenfalls gesetzgeberische Eingriffe erforderlich, um einen klaren Rahmen für die Verhandlungen mit den Kassen abzustecken und gleichzeitig die Kassen selbst finanziell zu stärken.

Im Bereich der Sozialen Pflegeversicherung muss der Staat das entstandene Defizit ausgleichen, das maßgeblich durch die Zusatzkosten der Pandemie verursacht wurde. Grundsätzlich sollte die Finanzierung der Pflegeversicherung auf eine breitere Basis gestellt werden, mit dem Ziel, dass alle Bürger*innen – nicht nur abhängig Beschäftigte – an den Beiträgen beteiligt werden. Darüber hinaus ist eine stärkere Verzahnung von öffentlicher und privater Finanzierung notwendig. Private Fördermittel können ergänzend wirken, dürfen jedoch nicht die Hauptlast tragen.

Eine Vermögenssteuer würde als Solidarbeitrag die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich verringern. Die zusätzlichen Einnahmen könnten gezielt in Bereiche wie Pflege, Bildung und soziale Sicherungssysteme fließen. So könnte die Steuerlast für Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen gesenkt werden. Die Idee, dass leistungsfähigere Mitglieder der Gesellschaft stärker zum Gemeinwohl beitragen, entspricht dem Grundgedanken sozialer Marktwirtschaft.

Es braucht eine Art Sozialpakt, der umfassende Reformabsichten für unsere Zukunft beinhaltet. Ich wünsche mir, dass die nächste Regierung einen Runden Tisch einberuft, bei dem wir unsere Lösungsansätze miteinander diskutieren.

Die AWO verfolgt ehrgeizige Nachhaltigkeitsziele und möchte bis zum Jahr 2040 klimaneutral werden. Was braucht es, damit der soziale Sektor effektiv zum Klimaschutz beitragen kann? 

Dafür braucht es zwei Dinge: Zunächst Mut und Innovationskraft – diesen bringen wir bereits auf, wie unsere Projekte „klimafreundlich pflegen“ oder die Erhebung des CO2-Fußabdrucks unserer Kitas zeigen. Darüber hinaus braucht es einen verlässlichen Rahmen durch die öffentliche Hand, um zielgerichtete Förderprogramme auf den Weg zu bringen. 

Investitionen in energieeffiziente Gebäude, erneuerbare Energien und nachhaltige Mobilitätskonzepte sind nicht teuer, sondern eine lohnende Zukunftsinvestition. Hier ist eine strategische und langfristige finanzielle Unterstützung entscheidend, um die hohen Anfangsinvestitionen zu stemmen und die Klimaziele der Bundesregierung einzuhalten.

Außerdem sollten Klimaschutzmaßnahmen in den Arbeitsalltag integriert werden, beispielsweise durch die Reduktion von Ressourcenverbrauch und die Förderung klimafreundlicher Verhaltensweisen. Schulungen und Sensibilisierungsmaßnahmen helfen dabei, sowohl Mitarbeitende als auch Klient*innen für nachhaltiges Handeln zu begeistern. Nur durch eine Kombination aus strukturellen Verbesserungen und einem Bewusstseinswandel kann der soziale Sektor seinen Beitrag zum Klimaschutz leisten und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit gewährleisten.

Nach vielen Stationen in der Sozialen Arbeit sind Sie heute als Vorständin, Aufsichtsrätin und Strategieberaterin tätig. Zugleich haben Sie zahlreiche Erfahrungen im Trainieren und Coachen. Was kann man aus dem Spitzensport für die Wohlfahrtspflege lernen?

Die große Lehre, die man sowohl aus der sozialarbeiterischen Praxis, dem Coaching, aber auch dem Spitzensport ziehen kann, ist: Durch Training, eine konstruktive Fehler- und Besprechungskultur wird man Meister in seiner Klasse. Und nur mit Teamwork schaffen wir die besten Lösungen. Das ist im Übrigen auch der Leitsatz von AWO-Gründerin Marie Juchacz gewesen: „Das Wir ist immer stärker als das Ich.“  

Ehrenamtlich engagieren Sie sich als Mentorin für junge Frauen in Leitungspositionen. Was geben Sie Ihren Mentees mit? 

Ich möchte Frauen ermutigen, sich ihrer eigenen Stärken bewusst zu werden – etwas, das in unserer Gesellschaft leider nicht immer selbstverständlich ist. In meinen Gesprächen erlebe ich immer wieder, wie sehr sich Frauen unterschätzen und unter Selbstzweifeln leiden. Ein wichtiger erster Schritt ist, diese Selbstzweifel nicht als persönliches Versagen zu begreifen, sondern als eine Wechselwirkung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu erkennen. Viele Frauen werden in unserer Gesellschaft nach wie vor gebremst, unterschätzt und angezweifelt. Dieses Phänomen wirkt sich unmittelbar auf ihr Selbstbewusstsein und ihre Karrierechancen aus. Frauen müssen häufig deutlich mehr leisten als Männer, um die gleiche Anerkennung zu erhalten. Deshalb ist es entscheidend, strukturelle Hürden sichtbar zu machen und Frauen zu bestärken, ihre Kompetenzen selbstbewusst zu vertreten.

Was würden Sie jungen Menschen raten, die eine Karriere in der Sozialarbeit anstreben? 

Es lohnt sich – Beziehungsberufe sind nicht nur Berufe mit Zukunft, sondern auch unverzichtbar für das gesellschaftliche Miteinander. Sie stärken Empathie und Gemeinschaftsgefühl und tragen entscheidend dazu bei, soziale Gerechtigkeit und Solidarität zu fördern. Sozialarbeit ist ein wesentlicher Bestandteil unseres gesellschaftlichen Wohlstands und erfüllt die menschliche Sehnsucht nach Sicherheit und verlässlichen Versorgungsstrukturen in schwierigen Lebensabschnitten. Denn eins ist klar: Wir alle erleben im Laufe unseres Lebens Situationen, in denen wir auf die Unterstützung anderer angewiesen sind – genau das macht ein funktionierendes Zusammenleben aus.

Jungen Frauen und jungen Männern möchte ich mitgeben: Traut euch, eure Stärken und Kompetenzen selbstbewusst einzubringen. In sozialen Berufen ist es entscheidend, sich nicht von möglichen Selbstzweifeln entmutigen zu lassen, sondern die eigene Berufung als Bereicherung für die Gesellschaft zu begreifen. Gleichzeitig ist es wichtig, die strukturellen Herausforderungen im sozialen Sektor im Blick zu behalten und sich für bessere Rahmenbedingungen und mehr Anerkennung einzusetzen. Wer den Mut hat, diese Berufe zu ergreifen, gestaltet aktiv eine solidarischere und gerechtere Gesellschaft – und das verdient höchste Wertschätzung.