Der Deutsche Caritasverband ist der katholische Verband der Freien Wohlfahrtspflege und Deutschlands größter Wohlfahrtsverband. In ihren etwa 25.000 Einrichtungen und Diensten bietet die Caritas wirksame Hilfen für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Sie gestaltet zudem die sozial- und gesellschaftspolitische Entwicklung mit.
Die Arbeit der zahlreichen Einrichtungen und Dienste vor Ort organisieren und koordinieren 27 rechtlich eigenständige Diözesancaritasverbände. Deren Zuständigkeitsgebiete entsprechen den 27 katholischen Diözesen in Deutschland.
1897
über 25.000 soziale Einrichtungen und Dienste
1923 (Gründungsmitglied)
Dr. Susanne Pauser ist seit März 2023 Vorständin für Personal und Digitales des Deutschen Caritasverbandes. Ehrenamtlich engagiert sich Dr. Susanne Pauer unter anderem als Mitglied im Cusanuswerk e. V. und in der Kommission VI (Gesellschaft und Soziales) der Deutschen Bischofskonferenz. Vorständin Personal und Digitales
Homepage Deutscher CaritasverbandPersonalmangel in der Sozialwirtschaft: „Die vorhandenen Ressourcen gerecht verteilen“
Der Mangel an Personal stellt mittlerweile das größte Risiko für den wirtschaftlichen Betrieb von Einrichtungen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft dar. Im Bereich Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung sind viele der offenen Stellen nicht besetzt. Kindergärten schließen früher, in Pflegeheimen und Krankenhäusern bleiben Betten leer und ambulante Dienste müssen Anfragen ablehnen, weil die erforderliche Personalquote nicht erreicht wird. So sind auch Investitionen in Gefahr, denn ihre Finanzierung wird auf der Basis ausgelasteter Einrichtungen und Dienste kalkuliert.
Wie wird sich die Personalsituation weiter entwickeln, jetzt, wo die Generation der geburtenstarken Jahrgänge langsam in den Ruhestand geht? Wie lassen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen und langfristig an den Arbeitgeber binden? Welche Strategien und Erfahrungen bestehen in einer Organisation, in der fast 700.000 Menschen in bundesweit rund 25.000 Einrichtungen und Diensten hauptberuflich arbeiten und von mehreren hunderttausend Ehrenamtlichen und Freiwilligen unterstützt werden? Über diese Fragen sprach die Sozialus-Redaktion mit Dr. Susanne Pauser, Vorständin Personal und Digitales beim Deutscher Caritasverband, und seit Juni 2023 Mitglied des Aufsichtsrats der SozialBank.
Frau Dr. Pauser, wie erleben Sie den Personalmangel in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft?
Da gibt es zwei Aspekte. Zum einen ist es dramatisch, zum anderen auch zynisch. Das Dramatische ist, dass uns der Personalmangel stark betrifft. In der Caritas sind etwa 20 % der Stellen unbesetzt, besonders in der Altenpflege, aber auch in anderen Bereichen wie Beratung und stationärer Jugendhilfe. Das ist eine Katastrophe. Andererseits ist es zynisch, weil es z.B. Ansätze wie die Einwanderung von ausländischen Fachkräften gibt, aber es fehlt an einem ernsthaften Commitment, Einwanderung energisch positiv zu sehen. Insolvenzen, vor allem im Altenpflegebereich, passieren auch aufgrund des Fachkräftemangels. Wenn Leute fehlen, müssen die Stationen schließen, wenn Stationen geschlossen werden, funktioniert die Refinanzierung nicht mehr, und das ist zynisch. Es gibt Gesetzesinitiativen, aber es fehlt an echtem Engagement auf allen Ebenen.
Gibt es Unterschiede zur Finanz- und Versicherungsbranche, in der Sie bis Anfang des Jahres tätig waren?
Ja, es gibt auch in der Finanzdienstleistungsbranche einen erkennbaren Fachkräftemangel. Besonders in IT, Rechnungslegung, Spezialfragen und Digitalisierung. Es gibt den Fachkräftemangel, aber die Rahmenbedingungen sind teilweise besser. Bezahlung, Nebenleistungen und mobiles Arbeiten sind attraktiver und können relativ problemlos ausgedehnt werden. In der Pflege funktioniert mobiles Arbeiten nicht. Vier-Tage-Woche und zwei Drittel davon im Homeoffice, wovon momentan überall gesprochen wird, da ist die Pflege ist raus. Und das trägt nicht dazu bei, den Bereich attraktiver zu machen.
Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung ein?
Die Entwicklung wird dramatischer. Der geburtenstärkste Jahrgang 1964 geht 2028-30 in Rente, und wir werden einen massiven Personalmangel erleben. Schon jetzt fehlen mindestens 400.000 Menschen pro Jahr. Was wir bisher erleben, ist nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt.
Hat die Digitalisierung positive Auswirkungen auf die Personalsituation?
In der Finanzdienstleistungsbranche war die Angst vor Massenarbeitslosigkeit durch Digitalisierung unbegründet. Die Digitalisierung hat positive Auswirkungen, aber sie kommt langsamer als erwartet. Sie verändert, aber es ist schwer abzuschätzen wie stark. Es gibt Chancen im Gesundheitswesen, in der Pflege – ich bin ein großer Fan von Robotik und Sensorik in der Pflege. Aber ich bin vor allem ein Fan davon, in der Sozialwirtschaft die Prozesse zu optimieren. Die Prozesse sind häufig manuell und von massiven Medienbrüchen durchzogen. Wir hängen, so erlebe ich uns in der Sozialwirtschaft, mit Leidenschaft an dem, was wir tun. Aber wir denken nicht genug darüber nach, wie wir es tun. Und da ist Digitalisierung eine Chance. Aber machen wir uns aber nichts vor, ein Großteil unserer Tätigkeiten wird analog bleiben. Digitalisierung kann unterstützen, aber nicht alles ersetzen.
Wie begegnet der Deutsche Caritasverband dem Personalmangel? Welche Strategien gibt es?
Natürlich müssen wir besser werden, was Rekrutierung und Marketing angeht. Ich bin aber absolut dagegen, die Hoffnung auf Rekrutierung und Marketing zu setzen. Das wird uns nichts nützen. Menschen, die nicht mehr da sind, kann man nicht werben. Auch ausländische Fachkräfte sind eine Chance. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird jedoch nicht ausreichen. In unserem Land haben viele noch nicht verstanden, dass Zuwanderung etwas Positives ist. Dass Menschen, die zu uns flüchten, auch Menschen sind, die für uns und mit uns arbeiten können. Also nicht eine Belastung für unsere Sozialsysteme, sondern möglicherweise ein Teil der Lösung sind. Dies ist ein Bereich, in dem der Caritasverband aktiv arbeitet, sei es durch Lobbying oder Unterstützung. Da tun wir noch nicht genug, das gebe ich zu, aber da haben wir eine klare Haltung.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Digitalisierung. Wir setzen Modellprojekte ein, wie zum Beispiel Robotics in der Pflege, in Zusammenarbeit etwa mit der Uni Osnabrück oder im Caritasverband Kronach, um die Digitalisierung voranzutreiben.
Etwas, das ich persönlich als meine Aufgabe sehe, ist, eine Debatte in der Gesellschaft, im Deutschen Caritasverband und in der Wohlfahrt anzustoßen. Wir müssen auch über unsere „Produkte“ und „Leistungen“ sprechen. Ist es richtig, Leistungen nur noch für 80% der Menschen anzubieten, weil man nur 80% des Personals hat, aber 100% Leistung bringen will? Oder sollten wir nicht auch darüber sprechen, stattdessen lieber für 100% der Menschen 80% der Leistungen, der Standards, der Qualität anzubieten? Das ist eine Frage, der wir uns nicht entziehen dürfen. Ich glaube, dass das Wohlstandsversprechen in diesem Umfang so vielleicht nicht mehr überall zu 100% zu halten sein wird. Das mag unangenehm sein, da wir in den letzten 30 Jahren unsere Leistungen überall ausgebaut haben, nicht nur die Caritas, sondern alle. Nun müssen wir uns womöglich auf eine schmerzhafte Debatte über Priorisierung einlassen. Das schmerzt wirklich sehr und stellt eine Veränderung dar. Aber wir dürfen uns nicht davor drücken. Es gibt Themen, bei denen wir kompromisslos sein müssen, wie etwa der Kinderschutz, aber es gibt andere Themen, über die wir sprechen müssen.
Zusammengefasst sind Rekrutierung, politisches Lobbying und die Bewertung unserer Angebote, Produkte und Leistungen sowie die Fachkraftquote wichtig. In Kombination versuchen wir, trotz aller Beschränkungen der Ressourcen voranzukommen.
Ich möchte einen Punkt ergänzen: das Thema inländische Arbeitskräftepotenziale. Dies ist eine komplexe Angelegenheit. Menschen, die derzeit nicht arbeiten, haben oft einen Grund, seien es Betreuungspflichten oder andere Verpflichtungen. Und nicht alle über 60 Jahren können alle Tätigkeiten noch leisten. Aber wir haben auch Kolleg*innen, die mit 66 Jahren in den Beruf zurückkehren. Ich glaube, wir können dies attraktiv gestalten. Auch das Thema Zuverdienstgrenzen ist eine gute Lösung. Insgesamt müssen wir uns der Tatsache stellen, dass künftige Generationen, die noch nicht geboren sind, nicht mehr die gleiche Anzahl an Arbeitskräften stellen werden. Daher wird uns der 1964-er Jahrgang in den Jahren ab 2028, 2029 oder 2030 bitterlich und flächendeckend fehlen.
Wie möchten Sie sich als Aufsichtsrätin in der SozialBank einbringen?
Die SozialBank gefällt mir ausgesprochen gut wegen der Gründungsidee von 1923: Selbsthilfe. Das ist etwas unglaublich Aktuelles und ist uns vielleicht in den letzten Jahren ein bisschen verloren gegangen. Es wird sehr viel nach dem Staat gerufen. Diese Frage der Selbsthilfe, auch als Teil der katholischen Soziallehre, wieder neu zu diskutieren und in Kreditvergabe, in Beratung und in Beteiligungen zu übersetzen, das finde ich hochinteressant.
Das andere ist, dass ich gerne meine Kompetenz im Zusammenhang mit dem Thema Risikomanagement einbringen würde. Risikomanagement hat eine starke bilanzielle Seite, aber auch eine, die auf den Fachkräftemangel eingeht. Ich denke, dieser Faktor wird immer noch in Teilen unterschätzt. Wie verändert dieses Risiko unsere Geschäftsmodelle und den Markt?
Drittens fühle ich mich als Aufsichtsrätin immer aufgerufen, einen Blick auf die Mitarbeitenden zu haben. Da werde ich Fragen stellen, lästig sein und mich aktiv einbringen. Das ist mein Anspruch.
Und wenn Sie die Zukunft so mitgestalten könnten, wie sähe für Sie eine nachhaltige Zukunft des sozialen Zusammenhalts aus?
Ich glaube, dass man verschiedene Dimensionen einbeziehen muss. Eine stabile wirtschaftliche Basis ist die Grundlage. Nur dann kann auch ein Sozialstaat wachsen und gestaltet werden. Wir müssen die ökologische Nachhaltigkeit noch viel stärker berücksichtigen und die sozialen Aspekte des Umbaus im Blick behalten. Stichwort sozialer Klimaschutz. Aber auch Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und Zusammenhalt von Individuen in einem Kollektiv. Es geht darum, wie wir in einer Gesellschaft so zusammenleben können, dass wir nicht mehr Ressourcen verbrauchen, als wir neu generieren können, und dass wir die vorhandenen Ressourcen gerecht verteilen. Wir müssen einen Ausgleich zwischen Generationen, Geschlechtern und Kulturen schaffen. In einer vernetzten Welt können wir nicht mehr ausschließlich in deutschen Kategorien denken, noch nicht einmal mehr in europäischen. Wir müssen weltweite Lieferketten und Zusammenhänge bedenken, ein globales Bewusstsein ist wichtig. Zeitliche Fairness und globale Fairness – diese Matrix müssen wir anlegen.