Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) vertritt jüdische Gemeinden und Landesverbände auf dem Gebiet der jüdischen Sozialarbeit. Sie ist einer der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland und engagiert sich mit rund 130 festen Mitarbeitenden und zahlreichen Ehrenamtlichen für die Teilhabe und das Empowerment marginalisierter Gruppen. Die ZWST folgt ihrem Leitbild seit über 100 Jahren – trotz der Zwangsauflösung und Neugründung infolge der Nazi-Herrschaft.
1917
130
1923 (Gründungsmitglied)
Aron Schuster ist seit 2018 Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, nachdem er dort von Kindesalter an ehrenamtlich im Jugendbereich aktiv war. Zudem engagiert sich der studierte Betriebswirt im Würzburger Stadtrat. Er ist Mitglied des Vorstands der Beratungsstelle OFEK e.V. und der Hilfsorganisation OlamAID e.V. Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
Homepage Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in DeutschlandJüdische Sozialarbeit: Ein Jahr nach dem 7. Oktober
Ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der dramatischen Eskalation des Nahost-Konflikts sieht der jüdische Wohlfahrtsverband seine Arbeit massiv beeinträchtigt. Erhöhte Sicherheitsmaßnahmen und der wachsende Bedarf an psychosozialer Unterstützung prägen seitdem die Hilfsangebote. Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), spricht im Interview über die soziale Arbeit der Wohlfahrtsorganisation und die Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland.
Was hat sich für die ZWST verändert durch den Terrorangriff der Hamas vor einem Jahr?
Aron Schuster: Das Massaker der Hamas am siebten Oktober vor einem Jahr und die darauffolgende weltweite Welle antisemitischer Gewalt und Diskriminierung stellen eine Zäsur für jüdisches Leben in Deutschland nach der Shoah dar. Für die ZWST konkret bedeutet das, dass wir in den letzten zwölf Monaten alle unsere Angebote und Veranstaltungen mit zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen versehen mussten. Darüber hinaus sind insbesondere Ressourcen in der psychosozialen Unterstützung notwendig geworden. Als sozialer Dachverband der jüdischen Gemeinden, der sich vor allem vulnerablen Zielgruppen annimmt, nehmen wir wahr, dass vor allem Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Senior*innen ganz besonders unter den Folgen leiden. Viele berichten von Unsicherheit, von Isolation, von psychischen Belastungen, von Zukunftsängsten und von Einschränkungen im Alltagsleben, die allesamt auch auf antisemitische Vorfälle zurückzuführen sind. Die ZWST und ihre Mitgliedsorganisationen übernehmen als soziale Räume eine unerlässliche Funktion. Sie werden als geschützt wahrgenommen, stabilisieren, helfen, den enormen psychischen Druck zu verarbeiten, und dienen dem Empowerment.
Wie erleben Sie die Situation für Jüdinnen und Juden in Deutschland?
Der psychische Druck entsteht auf zwei Ebenen. Zum einen haben wir es mit der Situation von Krieg, Terror und seinen politischen Konsequenzen zu tun. Auf der anderen Seite besteht eine konkrete Gefährdungs- und Bedrohungslage. Was die jüdische Gemeinschaft zunehmend umtreibt, ist die Tatsache, dass viele soziale Räume des Alltags nicht sicher sind: Einrichtungen wie Kitas, Hochschulen, Schulen, Nachbarschaften. Das verunsichert enorm, das enttäuscht, traumatisiert, aber das ruft auch Wut hervor. Ich finde es wichtig festzuhalten, dass es Antisemitismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen schon vor dem siebten Oktober gab. Ob islamistisch, rechtsextrem oder linksradikal – Antisemitismus war schon immer ein Angriff auf unsere offene und demokratische Gesellschaft. Aber dass der öffentliche Raum nicht mehr sicher zu sein scheint, eröffnet eine neue Dimension. Das verändert die Situation von Grund auf. Die Politik, die Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und die Bildungseinrichtungen stehen in der Pflicht, das verlorene Vertrauen wieder zurückzugewinnen.
Wie leisten Sie vor diesem Hintergrund soziale Arbeit in Deutschland?
Im Bereich der psychosozialen Unterstützung haben wir viele neue Programme und Projekte auf den Weg bringen können. Extrem nachgefragt werden Beratungsstellen. Unsere Mitgliedsorganisation OFEK, eine Fachberatungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung, hat in den letzten zwölf Monaten enorme Nachfrage erfahren, insbesondere leider vor allem aus dem Schulkontext. Auch die Migrationsberatungsstellen oder andere Sozialberatungsstellen werden verstärkt aufgesucht, weil ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft in mehrfacher Hinsicht Stigmatisierung erfährt. Ein überwiegender Teil unserer Mitglieder ist aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewandert. Viele konnten keine Anerkennung im Arbeitsmarkt erfahren, sind von Altersarmut bedroht und erleben jetzt die dritte Stigmatisierung durch die Religion.
Was braucht es jetzt, damit sich die Situation in Deutschland verbessert?
Grundsätzlich braucht es ein breiteres Verständnis für das Ausmaß des Antisemitismus und seine gesamtgesellschaftlichen Wirkungen. Ich bin der festen Überzeugung, Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der jüdischen Gemeinschaft, sondern ein Problem der Gesamtgesellschaft. Wenn es uns nicht gelingt, Minderheiten ausreichend zu schützen, dann droht der gesamte gesellschaftliche Zusammenhalt zu scheitern. Wer Jüdinnen und Juden diskriminiert, wird auch vor anderen Minderheiten nicht Halt machen.
In der Bildungsarbeit funktioniert einiges noch nicht so, wie es funktionieren sollte. Im Bereich der Erinnerungsarbeit wurde viel auf den Weg gebracht. Dennoch schaffen wir es leider nicht, diese noch stärker auf gegenwärtige Herausforderungen zu transformieren. Wir spüren eine große Überforderung, gerade im Schulkontext, wenn es darum geht, den Nahostkonflikt zu thematisieren. Hier braucht es dringend neue Konzepte. Ansonsten müssen wir alles daransetzen, dass die politischen Verhältnisse in Deutschland stabil bleiben. Das ist nicht mehr so selbstverständlich, weil wir erleben, dass populistische Kräfte deutlich an Zustimmung gewinnen.
Welche Herausforderungen bestehen für den sozialen Sektor vor dem Hintergrund multipler Krisen?
Der soziale Sektor ist genauso wie andere Bereiche auch innerhalb kürzerer Abstände extremen multiplen Krisen ausgesetzt. Diese neue Situation erfordert resiliente Strukturen. In den Krisen haben wir immer sehr klar vor Augen geführt bekommen, dass es gerade der soziale Sektor ist, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt trägt. Wenn ich zurückdenke an die Corona-Pandemie, dann waren es soziale Dienste und Einrichtungen, die auf kreativste Art und Weise versucht haben, Menschen zu erreichen und mitzunehmen. Auch die Bereitschaft, aus der Ukraine geflüchtete Menschen zu betreuen und zu begleiten, wurde letztendlich auch von sozialen Diensten und Einrichtungen getragen. Ich glaube, der soziale Sektor übernimmt gerade in Krisen eine unersetzbare Rolle. Trotzdem erleben wir, dass er bei den haushaltspolitischen Prioritäten nach unten fällt. Wenn es an Beratung, Begleitung und Unterstützung vulnerabler Zielgruppen fehlt, behindert dies die Integration und wird langfristig zu hohen Folgekosten führen.
Wenn Sie die Rahmenbedingungen ändern könnten, was würden Sie tun?
Zurückblickend auf die Krisen der jüngsten Zeit, stellen wir positiv fest, dass es gelungen ist, gemeinsam mit der öffentlichen Hand flexible, kreative, schnelle und gute Lösungen zu finden. Doch leider machen wir immer wieder den Fehler, in die alten Strukturen zurückzufallen, die langsam und aufwändig sind. Der große administrative Aufwand, beispielsweise bei Förderprogrammen des Bundes, geht zulasten der Betreuung und Versorgung von Klientinnen und Klienten. Wenn mindestens 30 Prozent der Zeit zur administrativen Abwicklung benötigt werden, mindert das die unmittelbare Wirkungsorientierung. Ich würde mir wünschen, dass wir von der Flexibilität in Zeiten der Krise lernen und auch im Alltag deutlich schlanker und unbürokratischer agieren könnten.
Die ZWST gehört zu den Gründungsgesellschaften der SozialBank, Sie sind seit letztem Jahr Mitglied im Aufsichtsrat. Wofür setzen Sie sich besonders ein?
Die SozialBank hat in den letzten Jahren einen äußerst innovativen, mutigen und sicherlich auch anspruchsvollen Weg eingeschlagen, um sich weiterzuentwickeln. Ich möchte sie dabei unterstützen, diesen Weg kontinuierlich fortzusetzen. Hierfür braucht es auch zukünftig eine konzentrierte und konstruktive Zusammenarbeit des Aufsichtsrates. Ich möchte vor allem die Perspektive kleiner und mittelgroßer Kunden im sozialen Sektor mit einbringen. Die SozialBank war und ist immer auch verlässlicher Partner kleinerer Stiftungen, Verbände, Organisationen, Pflegeeinrichtungen und Bildungsträger mit bis zu 50 Mitarbeitenden.
Was treibt Sie im Beruf am meisten an?
Wir sind mit Abstand der kleinste Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege. Das hat seine Nach-, aber sicherlich auch seine Vorteile. Dass wir besonders nahe an der Zielgruppe sind, macht für mich den besonderen Reiz dabei aus. Meinem Empfinden nach ist auch die Wirkungsorientierung bei uns noch ein Stück weit stärker nachvollziehbar, weil wir als Bundesverband mit seinen spitzenverbandlichen Aufgaben auch operativ zahlreiche soziale Angebote für die Zielgruppen erbringen. Ich schöpfe immer wieder die größte Motivation daraus, vor Ort zu sein und diese wertvolle Arbeit live zu erleben. Das ist wahrscheinlich der größte Motivationsfaktor, wenn man direkte, unmittelbare Rückmeldungen erfährt und sieht, wie sich Biografien durch unser Mittun positiv verändern. Eine riesige Herausforderung für den sozialen Sektor ist es aktuell, die richtigen Menschen zu finden. Ich schöpfe sehr viel Kraft daraus, wie unsere Haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden sich trotz dieser enormen Krisen in der jüngsten Zeit an ihre täglichen Aufgaben machen.