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Wege zu einer Caring Economy
Büchner Verlag Marburg 2020, 234 Seiten, 22 Euro
Viele sehen in der COVID-19-Pandemie eine echte Chance auf einen radikalen Neubeginn – nicht zuletzt für die Wirtschaft. Das Coronavirus löste eine weltweite Wirtschaftskrise aus, die nahezu 115 Millionen Menschen in extreme Armut stürzen könnte, prognostiziert die Weltbank. Gleichzeitig erreichte das Vermögen der Reichen und Superreichen „neue Höhen“, wie der Billionairs-Report belegt. Mittlerweile fordern einige Multimillionäre selbst sogar eine Art Reichernsteuer. Pionierin auf dem Gebiet des Umdenkens und Neudenkens ist die US-Wissenschaftlerin Riane Tennehaus Eisler (89). Ihr Buch „The Real Wealth of Nations“ – „Der wahre Wohlstand der Nationen“ erschien bereits 2008 in den USA, wobei der englische Titel auf den Klassiker von Adam Smith anspielte: „The Wealth of Nations“. Unter dem sperrigen Titel „Verkannte Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economie“ ist es nun erstmals auf Deutsch erschienen.
Kann ein Buch, dass vor über zehn Jahren geschrieben und erst 2020 ins Deutsche übersetzt wurde, ernsthaft neue Wege aus der aktuellen Krise aufzeigen? Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja. Riane Eislers Grundannahmen, dass nicht nur in privaten Beziehungen, sondern auch in der Wirtschaft partnerschaftlicher gedacht werden muss, sind gerade mitten in der Corona-Krise wichtiger geworden als je zuvor.
Die Anthropologin fordert bereits seit Jahrzehnten einen wirtschaftlichen Wandel und ist überzeugt: Anstatt „zum alten Normal“ zurückzukehren, können wir den wiederkehrenden Krisen nur ein Ende setzen, wenn Wirtschaft und Wirtschaftspolitik von Grund auf neu und vor allem menschengerecht gedacht werden.
Riane Eislers unkonventionelle Kernthese: Ein Wandel der Wirtschaft kann nur gelingen, wenn unsere Gesellschaft und unser gesamtes Zusammenleben fürsorglicher werden. Eine ideale, vollständig „partnerschaftlich“ geprägte Wirtschaft begründet sich für die Autorin vor allem auf gegenseitigem Respekt, die den Wert von Menschen, von Umweltschutz, von Pflege und Fürsorge anerkennt. Anders ausgedrückt: Die meist unbezahlte, vor allem von Frauen verrichtete Care-Arbeit ist kein „Gedöns“, sondern muss mehr Wert sein. Fürsorge ist für die Vorsitzende des „Center for Partnership Studies“ wichtiger als Konkurrenz.
Welche Folgen die Ausgrenzung von Pflegearbeit in der Ökonomie hat, wurde besonders beim ersten Lockdown in der Corona-Pandemie deutlich: Eltern mussten gleichzeitig ihre Kinder versorgen und arbeiten. Pflegekräfte erlebten in Krankenhäusern weltweit extrem Belastendes. Das System drohte zu kollabieren. Diese Situationen zeigten deutlich: Ohne finanzielle Wertschätzung für Care-Arbeit geht es nicht.
Ein vollständig partnerschaftliches System kann für Riane Eisler nur erfolgreich sein, wenn „überlebensnotwendige“ Tätigkeiten von Privathaushalten, von Kommunen und Non-Profit-Bereichen und von der Ressourcenwirtschaft als „wirtschaftlich produktiv“ berücksichtigt werden. Erst durch den achtsamen Umgang mit wertvollem Human- und Naturkapital, wie sie es nennt, kann „wahrer“ Wohlstand erzeugt werden. Nur eine empathische Caring-Economy bildet für die US-amerikanische Soziologin die Basis einer „realitätstauglichen Wirtschaft“.
Das Gegenteil zum Partnerschaftssystem ist für die Kulturhistorikerin eine „dominanzgeprägte“ Wirtschaft, die auf Hierarchien und ein „längst von überholten Geschlechterrollen geprägtem Wertesystem“ setzt. „Dominanzsysteme sind geprägt von autoritären Strukturen und Manipulation durch Angst und Bestrafung“, sagt Riane Eisler in Der Standard. „Um Hierarchien aufrechtzuerhalten, müssen Fürsorge und Empathie unterdrückt und herabgewürdigt werden. Angefangen in der Familie – und von dort ausgehend auch im wirtschaftlichen und politischen Leben.“ Ihrer Meinung nach ist gerade jetzt in der postindustriellen Ära „ein Kipppunkt“ entstanden, „ein Wendepunkt in der Geschichte, der ein radikales Umdenken verlangt“.
Die Sozialphilosophin engagiert sich seit Jahrzehnten als Denkerin und Aktivistin für den Aufbau menschlicher Gesellschaftsstrukturen. Riane Eisler wurde als Kind mit ihrer Familie von den Nationalsozialisten aus Wien vertrieben, fand nach einer Zeit in den Slums von Havanna in den USA eine neue Heimat. Ihr Leben beschreibt die 89 Jahre alte Juristin als Suche nach einer Antwort auf die berechtigte Frage: Weshalb gibt es in unserer Welt so viel Grausamkeit, Gefühllosigkeit und Zerstörung?
Bekannt geworden ist Riane Eisler in Deutschland vor allem unter Matriarchatsforscherinnen. 1993 erschien ihr Buch „Kelch und Schwert“, in dem sie über das weibliche und das männliche Prinzip in der Geschichte geschrieben hat und das mittlerweile in 27 Sprachen übersetzt wurde. Darin führt die Sozialphilosophin eine neue Sichtweise bei der Betrachtung sozialer Systeme ein, die den „Analyserahmen für all meine Bücher und Aufsätze bildet“ und dabei hilft, herauszufinden, wie die Grundlagen für eine gerechtere und nachhaltigere Welt geschaffen werden können.
Dass ihr aktuelles Buch jetzt auf Deutsch übersetzt wurde, ist der Übersetzerin Ulrike Brandhorst zu verdanken, die „grundlegenden Gedanken über unser Zusammenleben“ einem möglichst breiten Publikum zugänglich machen wollte.
In „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie“ fasst Riane Eisler ihre jahrzehntelangen disziplinübergreifenden Forschungen zu einem alternativen Wirtschaftsmodell zusammen. Mit dem Titel will die Autorin deutlich machen, dass unsere wichtigsten Wirtschaftsgrundlagen nicht finanzieller Art sind, sondern aus der Arbeitsleistung der Menschen und den Ressourcen der Natur bestehen. Gleich im Vorwort ihres Buches schreibt die Systemwissenschaftlerin: Die Pandemie zwingt uns einzusehen, dass sich die entstandenen Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen lassen, mit der wir sie geschaffen haben, und zitiert hier Albert Einstein. Für die Juristin lassen sich aktuelle oder künftige Herausforderungen nicht mit den bisherigen Wirtschaftssystemen bewältigen. Für Riane Eisler dürfen „rücksichtslose Politik und Praxis nicht länger belohnt, sondern müssen vielmehr durch hohe Steuern eingedämmt werden.“
„Auch wenn Könige mittlerweile durch Kapitaleigner ersetzt wurden, sind auch die modernen Unternehmen im Grunde genommen immer noch Einrichtungen, deren einziger Zweck darin besteht, Geld zu generieren und sich ansonsten um möglichst nichts Anderes zu scheren - auch nicht um Menschen oder Mitwelt“, schreibt Riane Eisler – und erläutert auf knapp 20 Seiten die Folgen.
Ein Vorschlag der Systemwissenschaftlerin lautet: Unbezahlte Care-Arbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird – wie die Betreuung der eigenen Kinder – mit in Wirtschaftskennzahlen einfließen zu lassen. Riane Eislers „Center for Partnership Studies“ hat deshalb die Kennzahl des Sozialen Wohlstandsindex entwickelt, die – anders als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – die Rentabilität von Investitionen in Fürsorge für Mensch und Mitwelt sichtbar macht. Dadurch soll deutlich werden, wie sehr unsere Wirtschaftssysteme auf dieser unbezahlten Arbeit beruhten. Auch Umweltschäden müssten in Kennzahlen stärker berücksichtigt werden, ebenso Investitionen in „Humankapital“ wie Bildung, die der Gesamtgesellschaft zugutekommen.
Riane Eisler macht Mut, zeigt neue Wege und verweist auf Unternehmen, die fürsorglich mit ihren Mitarbeitern umgehen. Sie kommen beispielsweise bei der Familienplanung oder der Pflege von Angehörigen mit flexiblen Arbeitszeiten entgegen. Im Gegenzug können sie auf deren Loyalität vertrauen. Fürsorge zahle sich also aus für die Unternehmen. „Mit einem interdisziplinären Blick auf ihre Forschung nimmt sie mit auf eine Reise – angefangen beim antiken Griechenland über Charles Darwin und das präkoloniale Afrika bis heute“, schreibt das Handelsblatt: „Sie zeigt die Genese des Denkfehlers, die Menschlichkeit aus dem ökonomischen Handeln zu streichen. Und ja, auch die Unterdrückung der Frau und der Weg zur Gleichstellung der Geschlechter spielen hier eine entscheidende Rolle.“ Gerade jetzt in der Krise.
Riane Eisler bitte im Vorwort darum, dieses Buch „unvoreingenommen“ zu lesen, weil ihr Ansatz weit über das hinausgeht, was herkömmlicherweise unter dem Begriff „Wirtschaft“ verstanden wird. Und die Autorin bittet darum, beim Lesen im Hinterkopf zu behalten, „was für Sie im Leben am Wichtigsten ist und was Sie sich am Sehnlichsten wünschen“. Lässt man sich darauf ein, regen ihre komplexen und brennend aktuellen Überlegungen automatisch zum Nachdenken an, auch wenn sie aus der Sicht einer US-Amerikanerin geschrieben sind: Welche gesellschaftlichen Änderungen wünscht man sich für die Post-Corona-Ökonomie? Welche Wirtschaft würde den Menschen anstatt den Aktionären dienen? Und: Wie lässt sich ein nachhaltiges und menschengerechtes Wirtschaftssystem aufbauen?
Weiterführende Links:
Wirtschaft nach COV: Wir können die Spielregeln ändern, in: ORF)
Riane Eisler: "Wir gestalten unsere Evolution selber mit", in: Der Standard)
Die ökonomische Formel zur Rettung der Welt, in: Handelsblatt
Die Wirtschaft muss partnerschaftlich werden, in: Deutschlandfunk Kultur
UBS/pwc: Billionaires Report 2020
(alle abgerufen am 07.01.2021)
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