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Pflegeheime in Deutschland stehen unter einem gewaltigen Anpassungsdruck. Die Betriebskosten steigen, der Bedarf an Personal und Kapital nimmt zu, jede fünfte Einrichtung gilt als insolvenzgefährdet. Der neue Pflegeheim Rating Report 2022 basiert auf 430 Jahresabschlüssen von rund 2.100 Pflegeheimen, also rund 14 Prozent des Marktes. Heraus kommt eine ernüchternde Bestandsaufnahme aktueller Trends im deutschen Pflegemarkt, verbunden mit Prognosen zur Sicherung der künftigen Versorgung.
Der vorliegende Report des RWI - Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung konstatiert eine seit 2016 kontinuierliche Verschlechterung der Ertragslage aufgrund wachsender Kosten. Während seinerzeit rund zehn Prozent der Pflegeheime mit einem Jahresverlust abschlossen, waren es drei Jahre später bereits 26,5 Prozent. 2019 zeigte die Rating-Ampel klare Farbsignale: 20 Prozent der Einrichtungen befanden sich im wirtschaftlich roten Bereich mit erhöhter Insolvenzgefahr. 42 Prozent der Pflegeeinrichtungen zeigten Gelb, 38 Prozent Grün mit geringer Insolvenzgefahr.
Der Osten Deutschlands steht laut RWI-Analyse erheblich besser da als einzelne westliche Bundesländer. Für Pflegeeinrichtungen in Sachsen, Berlin/Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen sei die wirtschaftliche Situation vergleichsweise gut, besonders schlecht hingegen bei Heimen in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen und Bremen.
Die Experten nehmen „einen längerfristigen Trend der Ambulantisierung“ wahr. Der Anteil ambulant versorgter Pflegebedürftiger nahm zwischen 1999 und 2019 von 20,6 auf 25,4 Prozent zu, eine Entwicklung, die sich durch Pandemie und Aufnahmestopps von Heimen verstärkt haben dürfte. Das gesamte Marktvolumen der ambulanten und stationären Pflegedienste betrug 2019 rund 60 Milliarden Euro. Stärkstes Wachstum im Gesundheitssektor verzeichnete der Pflegemarkt mit einer Zunahme zwischen 1997 und 2019 von 9,8 Prozent auf 14,7 Prozent.
Einen zweiten zentralen Trend macht der Report bei der Privatisierung fest. Wurden 1999 erst 25,4 Prozent der Pflegebedürftigen in einer privaten Einrichtung versorgt, waren es 2019 schon 39,5 Prozent. In ambulanten Diensten stieg der Anteil im selben Zeitraum von 35,6 auf 52,3 Prozent. Die Zahl der Plätze in privater Trägerschaft stieg seit 1999 um 128 Prozent, listet der RWI-Report auf. Private Pflegeheime arbeiteten kostengünstiger als öffentlich-rechtliche oder freigemeinnützige Häuser. In Westdeutschland lagen ihre Preise sieben Prozent unter dem Durchschnitt, in Ostdeutschland ein Prozent, heißt es.
In der ambulanten und stationären Pflege waren 2019 rund 866.000 Vollzeitkräfte beschäftigt, davon 339.000 Fachkräfte. In der alternden Gesellschaft steigt die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf 4,9 Millionen, bis 2040 auf 5,6 Millionen (plus 20 bzw. 35 %). Entsprechend wächst der Personalbedarf: bis 2040 um 163.000 bis 380.000 zusätzliche Vollzeitkräfte in der stationären und um 97.000 bis 183.000 in der ambulanten Pflege. Das schließt bei Fortschreibung der bisherigen Pflegewahrscheinlichkeit 124.000 bis 210.000 Fachkräfte im stationären und ambulanten Bereich ein.
Der personelle Mehrbedarf kann nur gedeckt werden, wenn der Pflegeberuf attraktiver wird, mahnt der Report an. Drei Stellschrauben kommen in Frage: Verlängerung der Verweildauer im Pflegeberuf, Ausweitung der wöchentlichen Arbeitszeit bei Teilzeitkräften und Gewinnung neuer Auszubildender. Neben höheren Löhnen spielen auch weiche Faktoren eine Rolle, etwa ansprechende Karrieremöglichkeiten, gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gesellschaftliches Ansehen des Berufs. Weiterhin sollten die Zuwanderung qualifizierter Pflegefachkräfte und der Einsatz von arbeitssparender Technik (Ambient Assisted Living, AAL) verstärkt in den Fokus rücken.
Mangel herrscht nicht nur beim Personal, sondern auch auf bei Einnahmen und Investitionen. Um höhere Betriebskosten für Pflegeanbieter auszugleichen und der Insolvenzgefahr vorzubeugen, werden die Preise für Pflegeleistungen und damit die Belastung für Pflegebedürftige steigen müssen, sagen die RWI-Wissenschaftler voraus. Dabei gilt: „Inwieweit die Beitragszahler noch weiter belastet werden können, hängt von der gesamten Abgabenlast mit Steuern und Sozialabgaben ab.“ Weil die Kapitalreserven der Pflegeversicherung geschätzt nur bis zum Jahr 2035 reichen, werden Anpassungen bei Einnahmen und Ausgaben erforderlich.
Auf der Einnahmenseite zählt dazu eine gesteigerte Erwerbsquote von älteren Menschen und Frauen und eine Dynamisierung des Renteneintrittsalters. Auf der Ausgabenseite sollte der „recht steile Wachstumspfad der Ausgaben abgeflacht werden“, lautet die Empfehlung. Dazu könnte ein verminderter Pflegebedarf beitragen: durch Prävention, Reha und den verstärkten Einsatz der erwähnten technische Assistenzsysteme.
Um den zunehmenden Bedarf zu decken, bedürfe es der Mobilisierung von privatem Kapital, argumentiert der Rating Report. Die Schätzungen für Neu- und Reinvestitionen liegen zwischen 81 bis 125 Mrd. Euro. Die Politik solle die Regulierungsdichte reduzieren und die unternehmerische Handlungsfreiheit ausweiten, um eine risikogerechte Rendite zu ermöglichen. Vorgaben etwa zur Heimgröße oder zum Anteil der Ein-Bett-Zimmer seien schlichtweg überflüssig. „Wichtig ist vielmehr, dass es ein ausreichend großes Angebot an Einrichtungen gibt, die miteinander in einem Preis- und Qualitätswettbewerb stehen.“ Transparente Vergleichsangebote sollten dann Pflegebedürftigen und Angehörigen eine bedarfsgerechte und bezahlbare Auswahl möglich machen.
Der Report wird gemeinsam vom RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und dem Institute for Healthcare Business GmbH (hcb) erstellt. Mehrere Sonderanalysen ergänzen den Hauptteil, etwa zur Wirtschaftlichkeit stationärer Einrichtungen angesichts der Pflegereform 2021, zum Konzept des Betreuten Wohnens und zur Innovationskraft der gemeinnützigen Sozialwirtschaft:
Pflegeheim Rating Report 2022. Der Pflegemarkt unter Druck – Zeit für Veränderung, 177 Seiten
Bestellung der Studie beim medhochzwei-Verlag als Softcover (349 Euro) und eBook (299 Euro) unter
www.medhochzwei-verlag.de/Shop/ProduktDetail/978-3-86216-835-4-pflegeheim-rating-report-2022
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