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Wege aus der doppelten Bevölkerung
Edition Körber, Hamburg 2021, 360 Seiten, 24,- Euro
Reiner Klingholz ist promovierter Chemiker beschäftigt sich seit 30 Jahren mit Demografie und mit dem verheerenden Einfluss des Homo sapiens auf seine Umwelt. Erst als Wissenschaftsjournalist (bei ZEIT und GEO), dann von 2003 bis 2019 als Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, ein Thinktank zu globalen demografischen Fragen. Von 2005 bis 2007 war er zudem Mitglied der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ des Landes Niedersachsens. In seinem neuen Buch „Zu viel für diese Welt. Wege aus der doppelten Bevölkerung“ bringt der renommierte Bevölkerungsforscher seine beiden Lebensthemen zusammen und geht der Frage nach: Was heißt es eigentlich für unseren Planeten, wenn demnächst acht Milliarden Menschen darauf Platz finden müssen?
Wer oder was ist überhaupt zu viel für diese Welt? Und was genau ist mit „doppelter Überbevölkerung“ gemeint? Darunter sind die Länder zu verstehen, in denen mehr Menschen nachwachsen, wie der Autor es ausdrückt, als mit Nahrung, mit Gesundheitsdiensten, mit Schulbildung und vor allem mit Arbeitsplätzen versorgt werden können. „Die Zukunft dieser Menschen, vor allem in Afrika und Westasien, ist sehr fraglich“, weiß Reiner Klingholz.
Länder können aber auch überbevölkert sein, wenn vor allem die Menschen in den wohlhabenden Ländern mehr Ressourcen, mehr Rohstoffe verbrauchen, als in der Natur im gleichen Zeitraum nachwachsen. Und: Wenn mehr Schadstoffe, mehr Abfälle hinterlassen werden, als die natürlichen Systeme in diesem Zeitraum abbauen können. Ein Teufelskreis, der vor allem in reichen Ländern zutrifft, wo die Bevölkerung zunehmend schrumpft. Anders ausgedrückt: Ein Land wie Deutschland ist für den Demografie-Experten massiv überbevölkert, aber anders als beispielsweise Afrika.
Überbevölkerung sei eben nicht nur eine Frage der absoluten Zahl von Menschen auf der Erde, meint Reiner Klingholz. Denn während in armen Ländern die Bevölkerung kaum gebremst weiterwächst, sind reiche Länder eher von schrumpfender Einwohnerzahl betroffen. Der Demografie-Experte hat dabei immer auch um die Ressourcen im Blick, die pro Mensch verbraucht werden. Und in den wohlhabenden Ländern verbrauchen die Menschen seiner Meinung nach eindeutig zu viele Rohstoffe.
Für den Autor müssen beide Megaprobleme, der Überkonsum und die Überbevölkerung, getrennt voneinander betrachtet und gelöst werden: „Fairerweise müssen wir erst einmal unseren Konsumwahnsinn vor der eigenen Haustür bändigen, bevor wir über eine Bevölkerungsexplosion in den armen Ländern klagen und mit dem Finger nach Afrika zeigen. Die Überbevölkerung erschwert vor allem die Entwicklung der betroffenen Länder – die Konsumexplosion bereitet dagegen der ganzen Welt Probleme“, sagt Reiner Klingholz im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“.
In seinem Buch vergleicht der erfolgreiche Autor den armen Subsistenzbauern Tesfaye aus dem äthiopischen Hochland, den er einmal getroffen habe, mit der kinderlosen Wirtschaftsjuristin Annette aus Bielefeld. Der eine habe kaum genug zum Leben, sei aber reich an Kindern. Tesfaye kann seine drei Frauen und 24 Kinder mit seinem winzigen Stück Land zwar nicht wirklich versorgen, glaubt aber, dass die Familie ihn bei seiner Landarbeit unterstützen würde. Für Reiner Klingholz völlig illusorisch, weil es viel zu viele sind. „Das Problem in diesen Ländern ist, die Menschen sind so arm, dass sie weder ihr Leben noch ihre Zukunft planen können“, so der Autor im Deutschlandfunk (DLF). Armut und hohe Kinderzahlen sind für Reiner Klingholz „ein Kreislauf, der durchbrochen werden muss, vor allem, wenn man eine globale Armutsmigration verhindern will“.
Annette dagegen lebt in einer geräumigen Altbauwohnung, ist Mitte 30, liebt Städtereisen, will keine Kinder, um die Umwelt nicht zu belasten. Eindrucksvoll vergleicht Reiner Klingholz mit teilweise beängstigenden Studien die Umweltbilanz von Tesfaye und Annette: „Viele Menschen können zum Umweltproblem werden, vor allem dann, wenn ihr Wohlstand für einen hohen Umsatz an Ressourcen sorgt“. Bei Tesfaye sei die Umweltbilanz irrelevant, „nur, wenn man berücksichtigt, dass er den Wald abholzt, um Hirse und Mais anzubauen, wird sein ökologischer Fußabdruck größer“.
Die Wirtschaftsjuristin hält sich laut Autor zwar „für aufgeklärt und umweltbewusst“. Nur sei Annette mit Kühlschrank, Laptop, WLAN, Dienstreisen, Kurzurlauben, Fitnessclub, Theaterbesuchen und energieintensiven Streaming-Abenden Teil der „Megawattmaschine Deutschland“. „Sie verdient gut und was hereinkommt, landet zu einem guten Teil im Wirtschaftskreislauf“, schreibt Reiner Klingholz. „Sie müsste 98 Prozent ihres Geldes verbrennen und von dem Rest in eremitischer Bescheidenheit leben, wolle sie sich klimaneutral verhalten.“ Das sei auch für über 80 Millionen Deutsche unmöglich, zudem würde die Wirtschaft kollabieren. Für den Demografie-Experten sind arme Menschen umweltfreundlicher – „besonders Reiche sind die Pest für die Umwelt, selbst wenn sie sich eigentlich für die Rettung der Welt einsetzen.“
„Ich habe, während das Buch entstand, viel mit Freunden geredet, sie gefragt, wie sie ihren eigenen Rohstoffverbrauch und ihre Treibhausgas-Emissionen einschätzen. Sie alle bemühen sich, umweltschonend zu leben“, sagt Reiner Klingholz dem Bremer „Weserkurier“. „Alle haben vermutet, dass sie unter dem deutschen Durchschnitt von etwa acht Tonnen Kohlendioxid pro Jahr liegen. Ich habe ihnen gesagt, dass das unmöglich ist, bei ihrem Einkommen und Lebensstil. Über ihre tatsächliche persönliche Bilanz sind sie ziemlich erschrocken, denn sie war nicht besser als die von Annette aus Bielefeld.“ Für den Autor mündet unser Einkommen zu einem guten Teil im Konsum und der bedeutet stets Naturverbrauch. „Wir machen seit vielen Jahren richtig Party, aber wir nehmen dabei einen Kredit an der Zukunft auf.“
Wo wir hinmüssen, das ist für Reiner Klingholz ziemlich klar: „Das kann uns die Klimawissenschaft vor allem erklären, wir müssen bis zum Jahr 2050 runter auf null Emissionen von Treibhausgasen. Das innerhalb von knapp 30 Jahren hinzubekommen, ist eine Aufgabe, die hat die Menschheit oder auch kein einziges Land jemals bewältigen können, das ist eine ganz gewaltige Aufgabe“, sagt der Autor im DLF. „Das politisch einzufädeln und umzusetzen, ist eine Herkulesaufgabe.“
Der Bevölkerungsforscher sieht nur in einer deutlichen Abkehr der Industrienationen vom stetigen Wirtschaftswachstum eine Chance, die Klimakatastrophe aufzuhalten. „Die Abhängigkeit vom Wachstum macht eine nachhaltige Wirtschaftspolitik geradezu unmöglich“, sagt Reiner Klingholz dem „Weserkurier“. Dezidiert und sachlich geht der Chemiker der Frage nach, wie es sich beweisen lässt, dass der Mensch wirklich hinter der globalen Erwärmung steckt, und die Erkenntnisse der Wissenschaft und deren Modelle kein Unfug oder Erfindungen fremder Mächte sind.
Reiner Klingholz kennt alle nötigen Zahlen. Präzise wie in einem Indizienprozess belegt der Demografie- Experte, dass wir nachweislich auf dem falschen Weg sind. Extreme Temperaturschwankungen, viel zu heiße Sommer, Waldbrände, schmelzende Polkappen, exorbitante Wirbelstürme, all diese Fakten belegen, dass die magische Marke von 1,5 Grad längst eine Illusion ist. Ziel ist längst, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. „Sie aufzuhalten, das hätten wir nur geschafft, wenn wir 1990 angefangen hätten, zu bremsen und umzudenken.“ Reiner Klingholz empfiehlt auf Suffizienz zu setzen, gemeint ist eine bewusste Einschränkung des Lebensstils. „Befreiung von Konsumterror und Wegwerfgesellschaft, weniger Ausgaben, Entschleunigung in einer hektischen Zeit und Entspannung. Und vielleicht etwas Zeit zum Nachdenken über die Rolle der Menschen innerhalb der globalen Naturkreisläufe.“
Die Lage ist für den Experten wirklich dramatisch. In Kapiteln wie „Panik oder Entwarnung?“ oder „Vorsicht: Selbstbetrug“ bringt Reiner Klingholz das Dilemma auf den Punkt: Die Klimakatastrophe ist nur aufzuhalten ist, wenn die Wohlstandsgesellschaft der reichen Staaten im globalen Norden ihr weltzerstörerisches Verhalten stoppt. Umdenken heißt das Zauberwort. Dazu gehört für den Autor einzusehen, dass „Narreteien wie Kurzstreckenflüge“, sich im Privatwagen durch den Berufsverkehr zu quälen und wertvolle fossile Energie zu verschwenden sofort aufhören müssen. Oder wie es Reiner Klingholz drastisch ausdrückt, es geht darum, binnen einer einzigen Generation das komplette Denken und Handeln zu ändern. Ein Weiterso würde für den Autor in eine katastrophale Entwicklung münden, die die Menschheit nicht mehr beherrscht.
Es geht um Überbevölkerung, Überkonsum, Artensterben, Naturzerstörung, Vermüllung der Erde. Der Autor appelliert lesenswert und eindrucksvoll an den politischen Menschen, stellt konkrete Maßnahmen vor, wie es möglich ist, der doppelten Überbevölkerung zu begegnen. Und stellt klipp und klar fest: „Wir können die großen Globalprobleme Klimawandel, Ozeanverschmutzung, Erosion der Ackerböden nicht auf individueller oder nationaler Ebene lösen.“ Am Ende gibt 25 Punkte für die heile Welt, wie er es augenzwinkernd nennt. Dazu gehören CO2-Diät: weniger fliegen und weniger Auto fahren, Plastik vermeiden, weniger streamen. Aber auch: Regierungen unterstützen, die Wälder nachhaltig schützen, Emissionen besteuern, den Strukturwandel fördern und die Subventionen für Förderung und Verbrauch fossiler Energien beenden.
Weiterführende Links:
Deutschlandfunk: Wie Ressourcenverbrauch Überbevölkerung schafft, vom 17.04.2021
Die Welt: Bevölkerungsforscher fordert Abkehr vom Prinzip des stetigen Wachstums, vom 28.03.2021
Weser-Kurier: Reiner Klingholz: „Wir sind auf dem falschen Weg“, vom 28.03.2021
(alle abgerufen am 07.06.2021)
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