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Beratungsstellen, Notunterkünfte und Streetwork-Projekte schlagen Alarm. Viele Menschen hierzulande können sich trotz Arbeit oder Rente kein festes Zuhause leisten. Eine ohnehin bedrückende Situation, die sich noch weiter verschlechtert hat, wie eine Studie vom Evangelischen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe (EBET) und der Diakonie Deutschland nachweist: Im Vergleich zu 2018 sind 2,6 Prozent mehr wohnungslose Menschen in einer schlechten oder sehr schlechten Lebenslage.*
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit geht von 256.000 wohnungslosen Menschen (2020) in Deutschland aus, hinzu kommen 161.000 wohnungslose anerkannte Geflüchtete. Die vorliegende Expertise, eine Wiederholungsstudie zur ersten Lebenslagenuntersuchung 2018, stützt sich auf die Befragung im Jahr 2021 von knapp 1.000 Wohnungslosen in zehn Sprachen. Die Menschen wurden in 69 ambulanten Diensten, Beratungsstellen und Notübernachtungen der Diakonischen Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe aufgesucht. Ein eigens entwickelter Lebenslagenindex misst ausgewählte Indikatoren (materielle Situation, Erwerbsarbeit, Wohnen, Gesundheit, Sicherheit sowie Partizipation/Soziale Netzwerke) und ordnet das Ergebnis fünf Lebenslagen zwischen „sehr gut“ und „sehr schlecht“ zu.
Mehr als die Hälfte der Befragten ist zwischen 30 und 59 Jahre alt (62,7 %), ein Fünftel ist 60 Jahre und älter (20,4 %). Männer stellen die große Mehrheit (77,2 %). 79 Prozent der Studienteilnehmer sind deutscher Herkunft, 12 Prozent stammen aus dem EU-Ausland (v.a. Polen, Rumänien, Bulgarien).
Knapp zwei Drittel (62,3 %) der Befragten war ein Jahr und länger wohnungslos. Jede*r neunte Befragte lebt laut Studie auf der Straße, in einem Zelt, Wohnmobil oder in einem Abrisshaus. Jeweils weniger als die Hälfte erhielt Sozialleistungen (45,5 %) oder hat kein Geld (43,6 %).
Hatte die Lebenslagenuntersuchung von 2018 die existenzielle Sicherheit als wichtigsten Einflussfaktor für die Befragten identifiziert, so spielt in der Vergleichsstudie 2021 der Gesundheitszustand eine weitaus wichtigere Rolle. „Die Coronapandemie hat ganz offensichtlich die sowieso schon prekäre Lebenssituation wohnungsloser Menschen noch verschärft“, hebt die Studie hervor. 41,6 Prozent schätzte die eigene gesundheitliche Situation als schlecht oder sehr schlecht ein, 58,4 Prozent erlebte in den vorangegangenen sechs Monaten mindestens einmal pro Monat bedrohliche Gewaltsituationen. Insgesamt gilt: „Der Gesundheitszustand spielt im Leben der Befragten in diesen unsicheren Zeiten eine deutlich wichtigere Rolle als 2018.“ Mitverantwortlich sind etwa reduzierte Platzkapazitäten in Tagesaufenthalten und die erschwerte Kontaktaufnahme mit Sozialamt und Jobcenter.
EU-Bürger*innen stellen einen erheblichen Anteil der wohnungslosen Menschen hierzulande (30,2 %). Spezielle Angebote – innerhalb europäischer Sonderprogramme wie EHAP – haben die Situation noch nicht verbessert. „Sie leben weiterhin in deutlich prekäreren Lebenssituationen als Deutsche oder Angehörige anderer Staaten“, vermerkt die Studie.
Die Ergebnisse sind eindeutig – was folgt daraus? Dr. Jens Rannenberg, Vorsitzender des EBET, forderte bei der öffentlichen Vorstellung des Reports, wohnungslosen Menschen Wohnraum mit eigenem Mietvertrag zur Verfügung zu stellen. „Dazu sollte Housing First stärker als bisher gefördert werden. Schließlich ist auch die Prävention von Wohnungsverlusten sehr wichtig, gerade in Zeiten rasant steigender Kosten für Strom und Heizung, die einkommensarme Haushalte besonders treffen und im schlimmsten Fall zum Verlust der Wohnung führen können.“
Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik Diakonie Deutschland, wies auf die Notwendigkeit der Quotierung für wohnungslose Menschen beim sozialen Wohnungsbau hin. Die Autorin der Studie, Prof. Susanne Gerull von der Alice Salomon Hochschule Berlin, geht die Politik noch direkter an: Die Wohnungsnotfallhilfe müsse mit Unterstützung ihrer Dachverbände „der Politik dauerhaft auf die Füße treten“, damit sie Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation wohnungsloser Menschen ergreift. Wohnen sei nicht nur Menschenrecht, sondern auch Schutz vor Gewalt.
* Siehe zum Thema Obdachlosigkeit auch die preisgekrönte Initiative #letmebesafe des aktuellen BFS-Wettbewerbs Sozialkampagne in dieser Trendinfo.
Susanne Gerull, Wohnungslos in unsicheren Zeiten. Ergebnisse der 2. Lebenslagenuntersuchung wohnungsloser Menschen.
Eine Studie der Alice Salomon Hochschule Berlin in Kooperation mit EBET e.V., Berlin 2022, 55 Seiten
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