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Artikel Trendinfo 09/2024

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Die Macht der Machtlosen: Eine Geschichte von unten

Loel Zwecker, Tropen Verlag Stuttgart 2024, 26,00 Euro, 416 Seiten

 

Loel Zwecker war Dozent für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und schrieb für verschiedene Tageszeitungen. Jetzt hat der Kunsthistoriker über ehemalige Aktivist*innen geschrieben, die sich einer Ökonomisierung verweigerten.

Aktivismus ist beileibe keine Erfindung der Neuzeit. Bereits vor Jahrhunderten kämpften die sogenannten „kleinen Leute“ gegen Ausbeutung, Unterdrückung und für soziale Gerechtigkeit. Loel Zwecker schärft in „Die Macht der Machtlosen“ den Blick für die unkonventionellen Methoden und für die Verdienste von engagierten Unterprivilegierten.

Loel Zwecker nennt sie „the big three“: Die drei großen Bewegungen, die durch ihr politisches, soziales und kulturelles Engagement gesellschaftliche Fortschritte angestoßen haben. Gemeint ist der Abolitionismus, also die Abschaffung der Sklaverei, die Frauenbewegung und die Gewerkschaftsbewegung, alle entstanden ab dem 18. Jahrhundert.

Geradezu vorbildhaft in einer Reihe von „faszinierenden, nicht mit besonderen Privilegien ausgestatteten Menschen“, wie der Autor sie nennt, ist der Quäker Benjamin Lay. Ein kleinwüchsiger weißer Mann, der auf Barbados die Grausamkeit der Sklaverei erlebt hat, ehe er sich in Nordamerika als Obstbauer und Ziegenhirte niederließ. Er stemmte sich mit seinen Mitteln „gegen die größte Alltagsbarbarei der Menschheitsgeschichte“. Als Abolitionist der ersten Stunde engagierte Lay sich in der Anti-Sklaverei-Bewegung, zum einen mit spektakulären Aktionen und Pamphleten, zum anderen knüpfte er über Jahrzehnte politische Netzwerke, war sogar mit Benjamin Franklin befreundet.

„Benjamin Lay kann man als den ersten Aktivisten der Antisklaverei-Bewegung bezeichnen, vielleicht auch als den ersten Aktivisten im modernen Sinn überhaupt“, sagt Loel Zwecker im Zoom-Interview mit unserer Autorin. „1738 ist er in eine Quäker-Versammlung gegangen, hat ein Schwert gezogen und gerufen: ‚Gott möge das Blut jener vergießen, die ihre Mitgeschöpfe versklaven.‘ Dann habe er mit dem Schwert auf eine Bibel eingedroschen, „um Empathie hervorzurufen für die Versklavten“. Für den Autor waren die Abolitionisten historisch gesehen die ersten, „die wirklich dafür eintraten, Empathie auch als Faktor in die Politik und die Wirtschaft einzubringen“.

Verzicht von Privilegien bringt Gewinn für alle

In „Die Macht der Machtlosen“ geht es Loel Zwecker um sogenannte „kleinen Leute“, die in ihrer jeweiligen Zeit mit unkonventionellen Methoden versuchten, für das Unglück anderer zu sensibilisieren. Bestenfalls brachten ihre Methoden der Graswurzelbewegungen, die denen der heutigen Aktivist*innen erstaunlicherweise ähneln, nicht nur tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, sondern auch mehr Gleichheit für Millionen Menschen und ihre Nachfahren. Gemeint sind „bessere Arbeitsbedingungen, genossenschaftliches Wirtschaften, egalitäre Gemeinden oder die Schaffung von Stipendien, die mehr arme Menschen in die Parlamente bringen“, schreibt Loel Zwecker.

Wobei sich für den Autor eine Gemeinsamkeit festhalten lässt: „Oftmals war es ein Verzicht, ein Aufgeben und Loslassen von überschüssigen Ressourcen, von Privilegien und von Macht, das am Ende einen Gewinn für alle brachte.“

Loel Zwecker hat es bei seinen Recherchen immer wieder verblüfft, „dass die Leute, die gar nicht im konventionellen Sinn hochgebildet waren, für sich keinen persönlichen Ruhm wollten.“ Das ist für den Historiker ein wichtiger Punkt, wie er immer wieder im Gespräch betont, „dass man sich selbst nicht so wichtig nimmt, dass man bescheiden bleibt, dass man nicht so viel Aufhebens um sich macht.“ Leute, die zu einem gewissen Zeitpunkt als Spinner galten oder als total utopisch, haben später Recht behalten.

Mother Jones kämpft für menschenwürdige Löhne

Anfang des 20. Jahrhunderts kämpfte Mary Harris Jones, genannt Mother Jones, eine ältere Lady mit Rüschenkragen und scharfer Zunge, wie der Autor sie beschreibt, so aggressiv und resolut für menschenwürdige Löhne und Arbeitsbedingungen, dass ein Staatsanwalt die 65-jährige als gefährlichste Frau Amerikas bezeichnete. Sie machte darauf aufmerksam, dass Kinder bis zu 70 Stunden die Woche unterbezahlt in den Seidenspinnereien von Philadelphia arbeiteten, indem sie mit 300 von ihnen zur Sommerresidenz des damaligen Präsidenten Roosevelt marschierte. Oder sie engagierte sich 1912 bei Bergarbeiterstreiks im Kohlerevier in West Virginia als Gewerkschaftsführerin.

Dort herrschten wirklich bürgerkriegsähnliche Zustände, so der Autor, weil Kohlegrubeneigentümer wie Rockefeller Schergen angeheuert hatten, die die streikenden Arbeiter angriffen und einige sogar erschossen. Und da sei Mother Jones eingeschritten mit ihrer Autorität, ihrer resoluten mütterlichen Ausstrahlung, wenn man so will. Sie hat sich zwischen die Streikenden und die Schergen gestellt, mit ihnen geredet und so oft Schlimmeres verhindert. „Man denkt da aus heutiger Sicht vielleicht an die ‚Omas gegen Rechts‘ oder die ‚Wall of Mums‘, die es in den USA gab bei den Demonstrationen für Black Lives Matter, um zu zeigen, dass nicht nur sogenannte gefährliche Linksextreme da mitmachten, sondern auch die Mitte der Gesellschaft“, erläutert Loel Zwecker.

Im Spätmittelalter Fundament für modernes Recht gelegt

Den Ursprung des Aktivismus sieht Loel Zwecker „im unterschätzten 14. Jahrhundert“, wie er es nennt. Es habe ihn überrascht, dass es bereits im Spätmittelalter sehr radikal zuging. Bauern, Handwerker und niedrig Bedienstete, sind mit Mistgabeln nach London marschiert, um ein Ende der Leibeigenschaft einzufordern. Sie legten für Loel Zwecker so das Fundament für eine spätere moderne Auffassung von Recht und Gerechtigkeit.

Sie wollten die Abschaffung der Ständegesellschaft, kämpften gegen die Einteilung in Adel und Knechte. „Und das ist zum damaligen Zeitpunkt völlig spektakulär und historisch einzigartig, eine Premiere in dieser Absolutheit“, so Loel Zwecker

Und auch aus dem 14. Jahrhundert stammt die Balladengestalt des Robin Hood, der Reiche beraubte und die Armen beschenkte. Für den Autor könnte das Image des vorbildlichen Verbrechers wohlhabende Menschen motivieren, einer progressiven Besteuerung höherer Vermögen und Erbe zuzustimmen – allerdings ist die Robin Hood-Idee der Umverteilung global gesehen nach wie vor unpopulär.

Robin Hood motivierte für eine Art Umverteilung

Robin Hood habe natürlich nicht im heutigen Sinne eine progressive Besteuerung gefordert, wenn er reiche, wohlgenährte Mönche ausraubte. „Ganz ernsthaft ist er aber schon sozusagen die erste Figur, die wirklich für eine Art Umverteilung eintritt, die so was Heldenhaftes hatte und dadurch viele Menschen motivieren konnte.“

Darum geht es Loel Zwecker in „Die Macht der Machtlosen“ immer wieder, um die Verbreitung solcher Ideen auch auf populäre Art und Weise. Couragiert die eigene allgemeine Trägheit überwinden, um für scheinbar aussichtlose Ideen einzutreten oder Verbündete zu finden. Oder ein Stück von der „extrem beeindruckenden, vorbildhaften Haltung der Machtlosen in den Alltag mitzunehmen.“ Für den Autor könne man sich auch größere politische Projekte überlegen, beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Bürgerinnen und Bürger der AU, also der Afrikanischen Union. „Wenn sich etwa 20 reiche Staaten daran beteiligen, dass man versucht, ein tägliches Einkommen von umgerechnet vier Euro oder vier Dollar zu geben“, es wäre für Loel Zwecker ein Projekt, das zunächst mal recht utopisch, wenn nicht gar versponnen klingt. „Wenn man es genauer betrachtet, ist es gar nicht so abwegig und würde 800 Millionen Menschen helfen, die hungern.“

Fazit: Unkonventionelle Erfolgsrezepte für bessere Zukunft

„Die Macht der Machtlosen“ ist ein lesenswertes Plädoyer für mehr Mut, für unkonventionelle Methoden und für mehr Solidarität. Loel Zwecker geht es um mehr als nur darum, vergangene Taten von engagierten Unterprivilegierten zu ehren. Der Kunsthistoriker will, dass die unkonventionellen Erfolgsrezepte von einst als Anregung für eine bessere Zukunft verstanden werden.

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