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„Kinder sind unsere Zukunft“, so wird es gerne in Sonntagsreden beschworen. Eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zur Armut von Minderjährigen hierzulande kontrastiert diese Phrase mit herber Ernüchterung. Mehr als jedes fünfte Kind ist demnach arm oder armutsgefährdet. Von 2010 bis 2019 ist die Zahl Minderjähriger in Armut sogar gestiegen – trotz sinkender Hartz-IV-Quoten. Die Untersuchung „Kein Kind zurücklassen. Warum es wirksame Maßnahmen gegen Kinderarmut braucht“ fordert eine grundlegende Reform des gültigen Leistungssystems.
„In den 2010er-Jahren gab es eine Phase der Prosperität, doch diese kommt bei der ärmeren Bevölkerung nicht an – insbesondere bei den Kindern nicht", sagt Studienautor Dr. Andreas Aust. Armut bedeutet für junge Menschen hierzulande meist nicht, an Hunger zu leiden, hat aber sicht- und spürbare persönliche und soziale Folgen, die das Leben prägen. Diese Kinder und Jugendlichen haben zu Hause weniger Privatsphäre, melden sich bei Schulausflügen häufiger krank oder können ihren Geburtstag seltener feiern. Sie fühlen sich häufig beschämt, ausgegrenzt und insgesamt unsicherer.
Dabei hat die Politik in den vergangenen Jahren einiges zur Unterstützung von Familien auf den Weg gebracht: die Erhöhung des Kindergeldes und der Hartz-IV-Sätze, Reformen bei Wohngeld, Kinderzuschlag und beim Unterhaltsvorschuss. Hinzu kommt der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der es den Eltern erleichtert, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Und tatsächlich: Die Anteil von Kindern und Jugendlichen in der Grundsicherung ist im Zehn-Jahres-Zeitraum von 13,2 (2010) auf 12,9 Prozent leicht zurückgegangen, bestätigt die Analyse.
Diese Entwicklung dürfe nicht zu Fehlschlüssen verleiten, argumentiert Studienautor Aust. „Der Befund lautet stattdessen: Obwohl weniger Kinder und Jugendliche Hartz IV Leistungen bekommen, steigt die Einkommensarmut.“ So habe der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren in Armut von 18,2 Prozent (2010) auf 20,5 Prozent (2019) zugenommen – ein Zuwachs um 350.000 auf aktuell 2,8 Millionen Minderjährige.
Hinter dieser Schlussfolgerung stehen zwei wissenschaftlich anerkannte Armutsindikatoren: SGB-II-Bezug (Hartz-IV) und relative Einkommensarmut. Letztere liegt vor, wenn das Haushaltseinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Die SGB-II-Schwelle steige langsamer als die Armutsschwelle, erläutert Aust die wachsende Diskrepanz. Daher gebe es immer mehr Menschen, die zwar als arm gälten, aber keinen Anspruch auf Hartz-IV hätten. Außerdem sei zu vermuten, dass bezugsberechtigte Familien Leistungen aus Scham oder Unwissenheit nicht beantragten. Eine Folge sei ein unverändert höheres Ausmaß der Kinderarmut als beim Durchschnitt der anderen Altersgruppen.
Wobei die Grundsicherung ohnehin keinen wirksamen Schutz vor Armut biete, legt die Expertise dar. „Einem Paar mit zwei Kindern im Grundsicherungsbezug fehlen etwa 214 Euro monatlich, um die statistische Armutsschwelle zu überwinden.“ Armut konzentriert sich besonders auf den Nachwuchs von Alleinerziehenden (43 %) und von kinderreichen Familien mit drei und mehr Kindern. „Jüngere Reformen bei Leistungen wie Kinderzuschlag und Unterhaltsvorschuss holen zwar verstärkt Familien mit Kindern aus dem SGB-II-Bezug, aber sind mitnichten armutsfest”, erläutert Autor Aust.
So ist die Zahl der Bezieher von Kinderzuschlag von 2017 bis 2019 von 640.000 auf rund 820.000 hochgeschnellt – ein Indiz für wachsende Armut jenseits von Hartz-IV. „Die Familien sind in ein anderes Sicherungssystem gewechselt, bleiben aber (einkommens-) arm.“ Präzise Zahlen für die Auswirkung von Corona auf die Kinderarmut stehen allerdings noch aus.
Bei der Armutsverteilung auf einzelne Bundesländer benennt die Studie eine Verschiebung zuungunsten Westdeutschlands. In Bremen, Hessen, Saarland, NRW, Schleswig-Holstein und Niedersachsen verschlechtert sich die soziale Situation erheblich, in anderen herrscht Stagnation (Rheinland-Pfalz, Hamburg, Baden-Württemberg und Bayern). Eine positive Tendenz findet sich in den neuen Bundesländern. „Im Ergebnis führen diese gegensätzlichen Entwicklungen zu einer Angleichung der Kinderarmut auf insgesamt zu hohem Niveau.“
Trotz Wirtschaftsboom und Sozialtransfer nimmt die Kinderarmut zu. Das liegt laut Studie an zwei systemischen Fehlstellungen. Zum einen am „asymmetrischen Generationenvertrag“. Während die Altersversorgung weitgehend in kollektivenSicherungssystemen geregelt wurde, blieben die Aufwendungen für den Nachwuchs im Kern Privatangelegenheit der Familien.
Als weiteren Systemfehler identifiziert die Studie das ineffektive System der Familienförderung: ein „komplexes Set von steuerlichen Maßnahmen, sozialen Transfers und sozialen Dienstleitungen.“ Die familienpolitischen Leistungen seien zu breit gestreut und konzentrierten sich nicht auf jene Familien, die sie am meisten benötigten. So sorgten Ehegattensplitting und Kinderfreibeträge mit ihrer Koppelung an das steuerpflichtige Einkommen für eine klare Begünstigung der oberen Einkommensschichten.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband drängt darauf, Sozialleistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag, Bildungspaket und Kinderfreibetrag in einer Kindergrundsicherung zu bündeln. Darüber hinaus müssten Verteilungsfragen neu diskutiert werden: „Alle Maßnahmen, die geeignet sind, die Kluft zwischen arm und reich zu schließen, kommen auch Familien und damit Kindern zugute.” Insgesamt gelte es, Kinder aus ärmeren Familien bessere Bildungs- und Lebenschancen zu eröffnen.
Andreas Aust, Kein Kind zurücklassen. Warum es wirksame Maßnahmen gegen Kinderarmut braucht, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Paritätische Forschungsstelle (Hg.), Berlin 2021, 32 Seiten
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